Die Leiden einer persischen Wüstenameise

Viel heiße Luft und Sand im Getriebe bei Bike To Asia. Während unserer nächsten Reiseetappe tun wir es Moses gleich und ziehen mit ungesäuertem Brot in die Wüste. In unfreiwilligem Kriechtempo radeln wir bald in unsere erste richtige Reisekrise. Abseits davon bleibt aber noch viel Zeit für interessante und bisweilen skurrile Begegnungen. Bis zum Ende lesen lohnt sich also.

Am 11. Juli geht es in die zweite Halbzeit unserer Reise. Unsere nächste Etappe führt bis Mashhad, die zweitgrößte iranische Stadt, die ungefähr 1000km östlich, unweit der turkmenischen Grenze, liegt. Um es gleich vorwegzunehmen: entsprechend der unheilvoll klingenden Einleitung wird es eine sehr zähe Angelegenheit, und das aus mehrerlei Gründen.

der Basar von Tehran ist einer der wenigen wirklichen Sehenswürdigkeiten der iranischen Hauptstadt; die Waschmittelwerbung hab ich auch nicht verstanden (u.r.)

Zunächst dauert es einen halben Radeltag bis wir den Betonmoloch Teheran mit seinen 15 Millionen Einwohnern hinter uns gelassen haben. Wer wissen möchte, wie es ist, mit einem Fahrrad im Stau zu stehen, der kann das in der iranischen Hauptstadt voll auskosten. Irgendwann stehen die Autos derartig dicht Seite an Seite, dass selbst wir zum Warten gezwungen sind, bis sich das Verkehrsknäuel wieder entwirrt hat. 

Am Stadtrand verschluckt uns der sechsspurige Highway und schickt uns auf eine halsbrecherische Berg- und Talfahrt, die wir mit schwerbeladenen, hupenden Lkw Seite an Seite absolvieren. Jenseits unseres Seitenstreifens ist Todeszone, doch auch rechts  der Fahrbahn lauern Gefahren, denn hier trifft sich der Iran zum Shopping. Jede Region oder Provinz setzt auf bestimmte Produkte. Am ersten Tag sind vor allem Nüsse im Angebot, am zweiten Tag sind Wassermelonen der Renner, und wieder einen Tag später Schuhe. Der Highway spuckt uns in Damavand wieder aus, einer Kleinstadt im Schatten des gleichnamigen Berges, der mit 5670 Metern als größter Berg des Nahen Ostens gilt. Seine schneeweiße Silhouette duckt sich allerdings hinter den kahlen, felsigen Vorbergen.

Fear and Loathing im Iran: von der Teheraner Stadtautobahn über den Expressway zur Überlandstraße (v.l.n.r.)

Auch am zweiten Tag läuft nicht alles rund. Zunächst weicht die etwas eintönige Landschaft einer abwechslungsreichen Abfolge von Canyons und Bergketten. Das erste Mal seit dem Kandovan Pass sind die Berghänge hier nicht mehr kahl, sondern von Büschen bestanden, die in geschützten Lagen zu einer Größe heranwachsen, die fast das Wort „Baum“ rechtfertigt. Gleichzeitig endet 100km hinter Teheran jedoch auch sämtliche menschliche Besiedlung.. Nach einer Tunneldurchfahrt sinkt unsere Motivation auf den Nullpunkt. Wir haben keine Power mehr – und auch kein Wasser oder Nahrung. Vor meinem inneren Auge dämmert eine Vision herauf – eine eisgekühlte Cola! Und dazu ein Pool. Oder ein Strand. Lanzarote! Menorca! Kreta! Ich möchte richtigen Urlaub.

Wir fahren nicht auf der Hauptmagistrale durch die Dascht-e-Kavir Wüste, sondern haben einen Weg durch das Elbursgebirge gewählt, um der Hitze und dem dichten Verkehr zu entkommen. Hier oben in den Bergen fließt der Verkehr nur spärlich, dafür müssen wir auch mal 50km ohne Versorgungsmöglichkeit auskommen.

Erst nach einer lagen Bergauffahrt erreichen wir geradezu ausgemergelt den 2400 Meter hohen Pass, wo sich gottseidank ein Restaurant befindet. Doch selbst nach einem Liter Wasser fühle ich mich kaum besser. So ein Zustand nennt mal wohl Dehydrierung. Diese Erfahrung ist uns eine Lehre und so kaufen wir ab nun immer Wasser ein, sobald sich eine Gelegenheit ergibt. Oft ist das Wasser nach wenigen Minuten brühheiß, sodass wir die warmen, noch unbenutzten Wasserflaschen in diversen Supermärkten gegen eiskalte eintauschen. Ein Staffellauf von Wasserflaschen durch die persische Wüste – von Supermarkt zu Supermarkt. Manchmal ist unsere Vorsicht aber übertrieben. Am dritten Tag starten wir bewaffnet mit 6 Litern Wasser, zwei Brotlaiben und diversen Bananen in den Tag. Mit unserer Originalausrüstung plus einem Liter Tee und einer Kekspackung erreichen wir den Zielort, da mehrere Lkw Fahrer uns reich beschenken.

die Bäume verraten es: heftiger Gegenwind bei Firuzkuh (l.)

Der dritte Tag markiert das vorläufige Ende unserer Hiobsbotschaften- Trilogie. Weil im iranischen Frühsommer Regen, Schnee und Kälte aus dem Horrorportfolio eines jeden Fahrradfahrers ausscheiden, meldet sich der Gegenwind mit aller Vehemenz zurück. Nachdem wir in Teheran durchgehend Westwindwetterlagen hatten, weht der Wind jetzt konsequent aus Ost. Das Thema Gegenwind wurde hier schon mehrfach behandelt. Vielleicht wird es mit der Zeit auch etwas langweilig, darüber zu lesen. Doch der ständige Kampf mit dem Wind von vorne wird uns nun für 10 Tage bis Mashhad begleiten und bald drehen sich fast sämtliche Gespräche um dieses Thema. Für uns hat es schon längst den Olymp der Nervfaktoren für Langzeitradler erklommen. Gegen Regen oder Kälte kann man sich schützen, mit den kläffenden Straßenhunden wissen wir längst umzugehen, im Iran sind sie ohnehin kaum ein Thema. Doch einem Wind kann man nicht ausweichen, man muss ihn als ständigen Begleiter akzeptieren auch wenn man es nicht möchte. Bald machen selbst Bergabfahrten keinen Spaß mehr und es entstehen regelrechte Hassgefühle, da diese Wetterlage unsere etwas ehrgeizigen Pläne, jeden Tag im Schnitt 90-100km zu radeln, über den Haufen wirft. Schlimmer noch, es ist ein erheblicher Unterschied, ob man um 16:30 Uhr entspannt den Zielort erreicht und zwischendurch noch Zeit für ein Eis und etwas Sightseeing hat, oder entnervt und erschöpft in der Dunkelheit mit knurrendem Magen um 21 Uhr sein Zelt im Nirgendwo aufbauen muss. Erst am sechsten Tag dreht der Wind vorübergehend auf Nord und prompt legen wir mit 115km eine rekordverdächtige Etappe hin. Doch auch an diesem Tag fährt die Angst mit. Was ist, wenn der Wind wieder auf Ost dreht? Er tut es, und zwar bereits am nächsten Tag. Windstärke 6! Wutentbrannt postieren wir uns am Seitenstreifen, strecken den Daumen raus und gottseidsank hält der erste Pickup an. Ein freundlicher Iraner bringt uns in die nächste Stadt. Dabei wollte ich diese Wüstenstrecke aus eigener Kraft meistern. Minxin vertritt die Meinung, eine solche Reise solle Spaß machen, wir seien niemanden etwas schuldig sind und können daher auf „unerlaubte“ Hilfsmittel zurückgreifen.

Trotzdem geraten wir  unter Zeitdruck, denn am 26. Juni wird unser nur fünftägiges turkmenisches Transitvisum starten.  Die Begegnungen entlang der Straße werden weniger, und finden sie doch statt, treten wir bald ungeduldig von einem Bein aufs andere. Wir müssen weiter! Das ist eigentlich schade, denn unabhängig vom Wind, bleibt der Iran der Iran, wie wir ihn bisher kennengelernt haben. Die Leute sind von überwältigender Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft. Hatte die türkische Gastfreundschaft noch etwas Zupackendes und Handfestes, sind die Menschen hier wesentlich sanftmütiger und ruhiger. Selbst die muskelbepackten Berufsboxer in ihrem quietschegelben Sportwagen bitten uns lächelnd, fast unterwürfig um ein Foto. Der abschließende Händedruck ist jedoch der stärkste seit dem Bosporus.

Das gerne kolportierte Bild des grimmigen Gotteskriegers gerät immer mehr ins Wanken und erweist sich nun endgültig als Konstrukt westlicher Medien. Wir treffen auf Iraner unterschiedlichsten Alters, sozialer Stellung und Herkunft. Am ersten Abend in Damavand lädt uns ein recht konservativ gekleidetes Paar in seinen Garten ein. Diesmal gibt es keinen Alkohol, kein Politikerbashing und Minxin darf ihr Kopftuch selbstverständlich anbehalten. Doch auch diese Menschen zeigen sich als aufgeschlossen und interessiert, von Vorurteilen oder gar Abneigung gegenüber der westlichen Kultur ist nichts zu spüren.

die vielleicht größte Attraktion des Irans sind seine Menschen: Lkw Fahrer, der uns bei 43 Grad Wasser schenkt; gute Stimmung im Dorfladen; Einladung zum Tee (v.l.n.r.)

Frauen prägen das Straßenbild fast so wie Männer, wir entdecken sie hinter dem Steuer von Autos, im akkuraten Businessdress oder auf dem Weg zur Uni. „Ihr verwechselt den Iran mit Saudi Arabien“ lautet die knappe Antwort, wenn man sie auf Benachteiligung von Frauen anspricht. „Sicherlich haben Frauen eine andere Stellung als Männer“, erklärt man uns., „Aber das ist vor allem der Politik geschuldet. Und gilt nur in der Öffentlichkeit“

Fällt die Tür ins Schloss, ändert sich das Bild schlagartig. Die Hausarbeit erledigen zwar Frauen, dabei werden von ihren Männern jedoch geradezu angehimmelt. Alle relevanten Kaufentscheidungen  laufen über sie. Auf dem Imam-Platz in Esfahan haben wir junge Damen entdeckt, die ihre Männer kichernd aufzogen und mit Pistazien bewarfen.

Dabei erleben wir den Iran als durchaus religiöses Land. Sicher, unsere jungen, westlich orientierten Couchsurfer kümmern sich wenig darum, doch die meisten Familien, die wir besuchen, verneigen sich mehrfach am Tag gen Mekka, absolvieren den Hadsch dorthin und schwören auf den Koran. Am Ende steht für uns die Erkenntnis, dass der Islam im Iran maßgeblich das Leben und Miteinander der Menschen prägt - und dass das nicht nur schlecht ist. Denn die fundamentalistisch-islamischen Umtriebe, vor denen uns hyperrealistische Schlechtmenschen in Deutschland warnen wollen, begegnen uns während der sechs Wochen nicht ein einziges Mal.

Einladung bei Mohamoods Familie in Damagan

Doch da ist noch die iranische Regierung, an der kaum jemand ein gutes Haar lässt. Für mich als Deutschen, aufgewachsen mit Demokratie und Meinungsfreiheit, ist diese geradezu autistische Regierungsführung kaum nachzuvollziehen. Ein 80 Millionen Volk, muss das machen, was einige weltfremde Mullahs wollen. In Damgan übernachten wir bei Mahmoud, der mit seiner Frau und den beiden Töchtern ein Haus am Stadtrand bewohnt. Mahmoud hat mehrere Jahre in der USA gelebt und lässt an der Regierung kein gutes Haar. „90% der Iraner hassen ihre Regierung.“ „Was ist mit den anderen 10%?“, erkundige ich mich. „Das sind Kriegsveteranen, die von den Mullahs eine kräftige Abfindung erhalten, oder Menschen die selbst in der Regierung sind oder zumindest enge Verbindungen dorthin unterhalten.“

Mit solchen Problemen kommen wir persönlich kaum in Kontakt. Lediglich am fünften Tag erhält unser makelloses Iranbild leichte Risse. Wir überqueren einen Gebirgspass und werden von einer Polizeistreife angehalten, die gerade damit beschäftigt ist, munter mit Strafzetteln wegen Geschwindigkeitsübertretung um sich zu werfen. Nach einigen interessierten Fragen dürfen wir weiterfahren. Wenige km später wiederholt sich die Prozedur. „Passport?“, fragt man uns und ich antworte mit einem lakonischen „No.“ Der Polizist zuckt ratlos mit den Schultern und bringt uns eine Tasse Tee. Doch es ist damit nicht vorbei, denn wiederum einige km weiter östlich bei der nächsten Streife  ist das Auftreten der Sicherheitsbeamten bereits ernster und reservierter. Man reicht mir ein Mobiltelefon und ich vernehme eine sonore, englischsprechende Männerstimme.

„Ihr dürft nicht mit dem Fahrrad fahren.“

„Warum? Zu heiß? Zu trocken?“

„Nein. Im Iran benötigt man eine Lizenz zum Fahrradfahren“.

Stimmt – in der Grundschule musste ich 1986 eine Fahrradprüfung machen, das sogar umzugsbedingt zweimal. Beide Prüfungen verliefen erfolgreich und als Belohnung erhielt ich eine Urkunde und einen Wimpel, den ich an meinen klapprigen 24-Zollrad befestigte. Doch weder Wimpel noch Urkunde führe ich mit mir. Zudem ist letztere nicht in Farsi verfasst.

„Ach komm, ich brauch doch keine Lizenz zum Fahrradfahren.“

„Doch das ist so. Sind Sie im Besitz dieser Lizenz?“

„Nöö. Das geht sicherlich auch ohne.“

„Ich weiß ja nicht.“

„Machen wir uns keine Sorgen um so was. Wir fahren weiter.“

„Wenn Sie meinen….ok“

„Ja. Meine ich“.

Die Geschichte dieses merkwürdigen chinesisch-.deutschen Ehepaares, das durch die Wüste radelt scheint sich unter den Ordnungshütern bald in der gesamten Provinz herumgesprochen zu haben. Eine halbe Stunde später hält ein unscheinbarer französischer Kleinwagen neben uns. Ein Mann in grüner Uniform steigt aus. Wir wissen sofort, was droht. Im Iran gibt es viele Polizeiarten – eine für den Verkehr, eine andere rettet die Umwelt, und noch eine kümmert sich um Diebe und andere böse Menschen. Nun stehen wir aber das erste Mal wissentlich einem Religionswächter gegenüber. Ich werfe einen nervösen Blick Richtung Minxin, doch ihr Kopftuch sitzt. Alles ok also.

Der Polizist greift in die Tasche seiner Uniform.

„Passport!“

„Do you speak English? “, kontert Mixnin zurück

„No English. Farsi! “

„No English – no control.“, lasse ich verlauten.

Der Religionswächter lässt sich nicht von seinem Vorhaben abbringen. Wenige Sekunden später hält er unsere Reisepässe in seinen Händen. „No Visa“, poltert er und deutet auf unser abgelaufenes Visum. „Visa extension“, protestieren wir und zeigen auf den kleinen unscheinbaren Stempel, der auf die Verlängerung verweist. Der Mann runzelt die Stirn. So leicht lassen sich die Touristen also nicht aus dem Konzept bringen. Er probiert es mit Strategieänderung und blättert meinen Reisepass von der ersten bis zur letzten Seite durch. „Full!“ verkündet er und hält mir das bereits leicht schlotterige weinrote Dokument entgegen. „No passport“. Tatsächlich sind nur noch vier Seiten frei, doch darüber können sich turkmenische, usbekische oder tadschikische Grenzbeamte den Kopf zerbrechen. Oder meinetwegen ein iranischer, aber kein stinknormaler Straßenpolizist.

Noch etwa 10 Minuten dauert die rudimentäre und ziellose Konversation an und eigentlich gibt es auch nichts Erhellendes dazu zu schreiben. Zumindest nichts was die geneigte Leserschaft amüsieren könnte, außer der Tatsache, dass wir hier unser erstes Rendezvous mit einem iranischen Religionswächter feiern können und trotzdem gelangweilt sind. Etwas mehr Drama hätte diesem Event gut getan, aber vielleicht ist es besser, dass es so ist wie es ist. In den Schlussminuten lässt sich der Mann sogar ein Lächeln entlocken, dann setzt er sich in das viel zu kleine weiße Auto, das nirgendwo auf Polizei verweist und fährt unverrichteter Dinge davon.

Radeln am Rande der lebensfeindlichen Dasht-e-Kavir Wüste; Polizeikontrollen sorgen immerhin für Abwechslung (l.o.)

Am nächsten Tag überschreiten wir die Provinzgrenze und prompt reißt die Serie an Polizeikontrollen ab. Gleichzeitig .wird die Gegend immer karger. Leidglich in den Tälern sammelt sich in kalten Jahreszeit offenbar genügend Wasser, um eine bescheidene Landwirtschaft zu ermöglichen. Anstelle der modernen Betonarchitektur sichten wir immer mehr Lehmbauten. Viele Dörfer finden wir halb verlassen vor.

Gleichzeitig ändert sich unsere Art zu reisen. In Damavand beziehen wir noch ein Gästezimmer, am zweiten Tag schlagen wir unser Zelt zwischen einem Rasthof und der dazugehörigen Müllumfriedung auf. Immerhin haben wir hier die Gelegenheit, warm zu duschen. Am nächsten Abend ist ein Park inmitten von picknickwütenden Iranern unser Domizil. Und wieder später, campen wir an einen entlegenen Steilhang (Achtung, Schenkelklopfer!) zusammen mit Scorpions, Beetles und einigen Rolling Stones.

Wir überstehen auch diese Nacht, doch zum Dauerdrama Gegenwind gesellt sich nun noch eine Hitzewelle. Okay – es  mag etwas blauäugig anmuten, über die Hitze und permanente Sonne in einer Wüste zu fluchen, tatsächlich kann es aber auch im Iran wärmer als gewöhnlich sein. Die 43 Grad in Sabzevan sind definitiv zu viel, normalerweise ist es hier im Frühsommer um die 10 Grad „kühler

Weil wir diesmal allerlei Probleme diskutieren, sei noch verraten, dass zumindest der Ramadan für Fahrradtouristen kein wirkliches Problem darstellt. Zwar finden wir den Kiosk neben unserem Zeltplatz am ersten Tag des Ramadans morgens verschlossen vor, doch bereits an der ersten Autobahnraststätte hat zumindest ein kleiner Laden geöffnet, der alles Überlebenswichtige führt. Auch während des Ramadans halten gelegentlich Autos, um uns Eiswasser, Fruchtsäfte oder gar eine Wassermelone anzubieten. Das Highlight schlechthin ist eine ältere Dame, die Minxin ein leichtes, weißes Kopftuch schenkt. Die Tage des schwarzen Tschadors, der optisch an eine Taucherausrüstung erinnerte, sind somit gezählt.

Bei all der Euphorie unterläuft mir ein Fehler. Ich führe seit Teheran mein Sommeroutfit aus und trage Sandalen. Nach 2 Tagen in der Wüstensonne sind die freien Stellen meiner Füße durch die Gluthitze verbrannt, sodass ich von nun an weiße Tennissocken unter die Sandalen ziehe. Als uns zwei nette Frauen an einer Raststätte weiße Cowboyhüte schenken, entsteht unweigerlich der Eindruck, wir würden unser Ziel China an den Nagel hängen und direkt zur nächsten 80er Jahre Bad Taste Party radeln. Auch Minxin gerät in eine echte Identitätskrise, da sie mit fortschreitender Distanz immer öfters mit „Filipino?“, "Thai" und einmal sogar als "Afghan?" angesprochen wird.

      NICHTS                                                                                                                                  GEHT                                                                                                                             MEHR

Die Hitze, der Gegenwind, der heiße Wüstenstaub kulminieren in einer latenten Grundgereiztheit, sodass zwei bis drei Wortgefechte pro Tag zum Standard werden. Nach einer besonders anstrengenden Etappe ergreift gar der Irrsinn Besitz von uns.  Wir sitzen an einer kaum befahrenen Landstraße. Vor uns schmilzt der Asphalt, am Horizont wirbeln Windhosen Sandfontänen durch die Luft. Das einzige Geräusch, das wir vernehmen, ist unser Atem, bis ich mit einem lauten Ratsch eine Chipstüte öffne. Ein besonders großer Kartoffelchip stürzt zu Boden. Sofort ist ein Abnehmer zur Stelle. Eine Ameise balanciert die Beute auf ihrem Körper und macht sich damit auf dem Weg nach Hause. Ein paar Kieselsteine versperren den Weg und bald siegt bei der Ameise die Einsicht dass die gewählte Option wohl nicht zum gewünschten Erfolg führen wird. Die nächsten drei Zentimeter schiebt die Ameise den Chip unter Mobilisierung ihrer letzten Kraftreserven am Steinhufen vorbei. Es folgt eine kurze Pause von der Qual.

„Wir müssen ihr helfen“, unterbreche ich die Stille.

„Was willst du machen?“

„Ich gehe jetzt zu ihr und breche den Chip in zwei Teile.“

„Die schafft das auch ohne deine Hilfe.“

„Nein, das Drama muss ein Ende nehmen. Das kann ich mir nicht mit ansehen“

„Held!“

„Ach, meine Hilfe ist also nix wert? Alles nur scheisse, was ich mache, wa? Das willst du doch sagen, komm, gibs zu!“

„Nein. Sieh doch, die ganze Familie möchte den Chip essen. Nicht den halben“

„Woher kennst du ihre Familie? Lebt die dort hinten in einer Reihenhaussiedlung?“

Mittlerweile ist die Ameise schon einen halben Meter vorangekommen und straft meiner Skepsis Lügen.

„Nein, die wohnt da hinten neben der Straße“

„Siehst du, genau das ist es. Das sind noch mindestens 10 Meter, und die soll das alleine machen? Warum kommt ihr keiner zur Hilfe?“

„Mach was du willst, ich fahre jetzt weiter.“

Bevor sich Minxin auf ihr Fahrrad schwingt, taucht ein Motorradfahrer aus dem Nichts auf. Es folgen die üblichen Fragen: wo wir herkämen, wo wir hinwollen. Infolge unserer praktisch nonexistenten Farsi Kenntnissen wäre das Gespräch jetzt beendet, doch der Mann lässt nicht locker und deckt immer wieder erstaunliche sprachliche Schnittmengen auf. „Bayern München – khub (gut), German auto – Mercedes - khub (gut). Nachdem das erörtert wurde, schaltet sich Minxin in das Gespräch ein, das sich ab jetzt ausschließlich mit dem Aufzählen chinesischer Automarken befasst: „Geely“, ruft der Motorfahrradfahrer. „Chery“, kontert Minxin zurück. „Great Wall“ begebe ich zu bedenken, „Lifan“ wirft der Gast von der Straße in die Runde. Nach 5 Minuten gibt selbst die chinesische Automobilindustrie nicht mehr viel her.

 

Der Kartoffelchip leuchtet mittlerweile etwa 10 Meter entfernt vom Straßenrand und bewegt sich unermüdlich Richtung Wüste.

Die letzten 90km nach Mashhad legen wir wieder mit öffentlichen Verkehrsmittel, sprich einem Reisebus zurück, der uns von der Straße aufliest. So erreichen wir noch rechtzeitig, die zweitgrößte Stadt des Irans.

Mashhad lag im Golfkrieg weit entfernt von den verfeindeten Fronten sodass die Stadt in den 80er Jahren stark gewachsen ist. Doch eigentlich ist Mashhad eher als religiöses Zentrum des Irans bekannt. Nicht überraschend gilt es als konservative Stadt.  Die Polizei ist hier strenger als anderswo und somit repräsentiert Mashhad vielleicht die letzte Hoffnung, den richtigen Iran kennenzulernen, ein Land von grimmigen Gotteskriegern und unbarmherzigen Pashdari, die alles Westliche verteufeln. Um den stadtüblichen Bräuchen zu entsprechen, habe ich mir seit Istanbul vorsorglich einen Vollbart wachsen lassen. Ob es geholfen hat, klären wir im nächsten Reisebericht.

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Kommentare: 4
  • #1

    Bernhard (Montag, 20 Juli 2015 00:19)

    Fantastisch. Ich hatte von hinten nach vorne gelesen (nächste Tour zuerst) ; geht auch, immer spannend. Take care!
    Herzliche Grüsse.
    Bernhard.

  • #2

    张小玲 (Mittwoch, 22 Juli 2015 23:11)

    天啊 那是金饰店吗 太奢华了 手工艺震撼了我

  • #3

    张小玲 (Mittwoch, 22 Juli 2015 23:12)

    那是果冻吗
    食用色素弄的吧

  • #4

    Ronald (Dienstag, 04 August 2015 16:50)

    Hi ihr beiden,
    Sehr schoen zu lesen das es euch gut geht und ihr trotz Wind, Hitze und Polizisten gut voran kommt. Liebe gruesse Ronald