Ein Junge verschwindet

Der Weg in Richtung türkische Grenze ist von ständigem Kampf gezeichnet: dem Kampf gegen den Regen, gegen den Wind, gegen aggressive Hunde und zeitweise gegen uns selbst. Am Ende erreichen wir blessurenfrei den Bosporus.


12. März: Thessaloniki - Appolonia

Strecke: 57km

Min. Höhe: 16m, Max. Höhe: 253m

Höhenmeter: 433m

Wir verabschieden uns von unseren sympathischen Gastgebern und arbeiten uns durch die Vororte Thessalonikis eine 300 Meter hohe Anhöhe hinauf. Nachdem wir in den letzten Wochen fast ausnahmslos täglich Bergetappen zu bewältigen hatten, wird dieser kleine Pass bis Istanbul unser letzter bleiben. Die gut ausgebauten Landstraßen in Griechenland sind nur mäßig befahren und ermöglichen mit ihren breiten Seitenstreifen entspanntes Pedalieren. Unterwegs werden wir zum ersten Mal seit Istrien wieder Rennradfahrer entdecken. In einigen großen Städten hat man sogar markierte Fahrradwege eingerichtet, die aber meist nach wenigen Hundert Metern im Nirgendswo enden

Viel passiert nicht, bis wir am Stadtrand von Saloniki auf Dinosaurier und Mammuts treffen. Ein bemerkenswertes Rendezvous, haben sich diese beiden Spezies in der Erdgeschichte doch um etwa 60 Millionen Jahre verpasst. Nun rosten sie in trauter Zweisamkeit am Rande einer griechischen Großstadt ihrem endgültigen Lebensabend entgegen. Sowohl im lebendigen als auch im ausgestopften Zustand haben diese Kreaturen schon bessere Zeiten gesehen.

Nach einer Bergabfahrt tönt wütendes Kläffen aus einem Vorgarten. Ein Zaun trennt uns von einer wütenden Meute Hunde. Eigentlich ein gewohnter Anblick, doch zu unserem Entsetzen hat der Zaun ein Loch, sodass das wildgewordene Rudel auf die  Straße stürmt und sofort die Jagd aufnimmt.

Wir beschleunigen.

Die Bestien tun es uns gleich. 

Wir treten panisch in die Pedale. Der Fahrradcomputer schnellt auf 32 km/h hoch.

Das Rudel bleibt nicht stehen.

Minxin macht eine Vollbremsung, hält an und beruhigt die Meute mit ruhigen, eindringlichen Worten.

Die Hunde verlangsamen den Schritt, schnüffeln misstrauisch an Minxins Fahrrad. Und springen mit einem wütenden Satz nach vorne.

Eine besonders blutrünstige Bestie schnappt nach Minxins Knien. „Verpisst Euch! Haut ab!“ schreie ich mit voller Inbrunst.

Ein kurzes Innehalten. Dann geht die Verfolgungsjagd unter infernalischen Gejohle weiter.

Ich greife in meine Lenkertasche und leere die letzten Kartoffelchips aus der Tüte.

Ein kurzes Beschnüffeln der verlorenen Ladung, ein Ablecken des Asphaltes. Doch von solch billigen Ablenkungsmanövern lassen sich unsere Verfolger nicht täuschen.

Minxin streckt demonstrativ die Hand aus, ruft „Stopp“ und bleibt ein weiteres Mal stehen.

Die Hunde verlangsamen ihren Gang.

Minxin verschanzt sich hinter ihrem Fahrrad und schiebt es langsam von den Hunden weg. Erst jetzt beruhigt sich allmählich die Situation.

Wie vom Schafott geholt stiegen wieder auf unsere Fahrräder und radeln langsam weiter.

Wir werden in den nächsten Tagen immer wieder solche Vorfälle erleben und wenden gemäß der Parole „Zuckerbrot und Peitsche“ unterschiedliche Strategien an, mit den massenhaft umherstreunenden Straßenkötern umzugehen, zu denen wir eine Hassliebe entwickeln. Einerseits wecken die kläffenden Ungetüme in uns ungewohnte Aggressionen, andererseits nehmen diese bemitleidenswerten Geschöpfe in Griechenland rasch den unrühmlichen ersten Platz in unserer informellen Roadkillstatistik ein. Bald tausche ich die Steine in meiner Lenkertasche wieder gegen Kartoffelchips ein. Doch nicht nur tote Hunde, auch die Überreste von überfahrenen Eichhörnchen, Vögeln und Nagetieren dämmern am Straßenrand ihrer Verwesung entgegen.

etwas Altstadt hat Thessaloniki auch zu bieten; Mammuts am Stadtrand; Griechenland abseits der Tourismusregionen - ländlich und eigentlich ganz nett


13. März: Appolonia - Orfani

Strecke: 53km

Min. Höhe: 0m, Max. Höhe: 72m

Höhenmeter: 141m

Ein Lichtstrahl durchbricht die schwere Wolkendecke und taucht das gegenüberliegende Ufer des Volvi Sees in ein magisches Licht. Bauernhöfe und Schafweiden leuchten in klaren Konturen.

Die südliche Seeseite versinkt im Nebel und just hier verläuft unsere Strecke. Wir starten in den 10. Schlechtwettertag in Folge. Bislang haben wir Griechenland, abgesehen von ein paar Sonnenstrahlen in einem Gewerbegebiet Salonikis, nur nebelverhüllt im Nieselregen erlebt. Somit können wir seine durchaus vorhandenen landschaftlichen Reize höchstens erahnen. Nach den Volvi Seen geht es durch ein enges Tal hinab ans Meer. Die steil abfallenden Berge reichen zunächst bis an die Ägäis, um sich dann wieder zurückzuziehen und fruchtbaren Ebenen, Fischerdörfern und Urlaubsorten Platz zu machen.

Am Nachmittag legen wir einen Stopp beim Löwen von Amfipolis ein, einer Steinstatue, die im 3. Jhdt. vor Christus zu Ehren Alexander des Großen errichtet wurde. Durch blühende Kirschbaumfelder radeln wir die letzten km unserem heutigen Ziel dem Badeort Orfani entgegen.

Den Abend gibt es schnelle Fuffzähn, das heißt Gyros Pita mit Pommes für Minxin und Pommes mit Gyros Pita für mich. In der Imbissstube sendet ein Fernseher Bilder von einem jungen Mann, der seit über einer Woche als vermisst gilt

der Löwe von Amfipolis (o.r.); unser Wettrennen gegen die Kirschblüte: in Griechenland machen wir Boden gut (u.m.)


14. März: Orfani - Kavala

Strecke: 62km

Min. Höhe: 0m, Max. Höhe: 61m

Höhenmeter: 367m

Ein weiterer Radeltag ohne größere Vorkommnisse. Die andauernd schlechte Witterung stört uns noch nicht, da wir uns mit entsprechender Kleidung vor den Wetterkapriolen schützen können. Jedoch schlägt der wolkenverhangene Himmel mit der Dauer aufs Gemüt. Instinktiv reduzieren wir unsere Tagesetappen auf 60km. Sind diese abgehakt, denken wir nicht mehr ans Weiterfahren und kümmern wir uns sofort um eine Schlafgelegenheit. Am heutigen Nachmittag verspüre ich zum ersten Mal etwas völlig Ungewohntes: Langweile. Ich schaue ständig auf das GPS  und fiebere dem Feierabend entgegen. Habe ich schon einmal geschrieben, dass ich mich sehr für Fussball und Eishockey interessiere, aber Joggen und Fahrradfahren hasse?

Der Tag endet „kroatisch“, mit einem ständigen Auf und Ab an einer von Kiefernwald bestandenen Steilküste. Gegen 17:30 erreichen wir Kavala. Mit immerhin 50.000 Einwohnern ist das die erste größere Stadt seit Thessaloniki.

In der Bar läuft ein Fernseher. Die Suchtrupps sind dem 20jährigem Vermissten auf der Spur. Irgendwo in der Nähe von Ioaninna soll er zuletzt gesehen worden sein.

Strände sind rar an unserem beradelten Küstenabschnitt. Im Sommer trifft man dort eher einheimische Touristen (o.m.); Kavala, eine 55.000 Einwohnerstadt (u.l.)


15. März: Kavala - Xanthi

Strecke: 57km

Min. Höhe: 3m, Max. Höhe: 93m

Höhenmeter: 291m

Kavala geht auf eine byzantinische Gründung zurück und hat im Laufe seiner 2600jährigen Geschichte mehrfach den Namen und seine Besatzer gewechselt. Aus der frühen Epoche der Stadtgeschichte stammt das eindrucksvolle Aquädukt. Nicht minder imposant die mittelalterliche Festung, die auf einem steilen Hügel oberhalb der Altstadt errichtet wurde. Minxin möchte nicht das Fahrrad die engen Gassen hinaufschieben und passt auf die Fahrräder auf, während ich mich allein zu Fuß auf den Weg mache. Ich revanchiere mich mit einen oscarverdächtigen Kurzfilm, den ich mit meinem Smartphone auf der Festung drehe.

Der Regen bleibt, der Unmut schwindet. Das Radeln auf der alten Römerstraße Via Egnatia macht uns heute wieder mehr Spaß, die Minikrise ist bald vergessen. Die düsteren Bergketten der Rhodopen erinnern eher an British Columbia in Kanada, als dass sie mediterrane Gefühle wecken. Ich liefere mir über mehrere Kilometer ein waghalsiges Wettrennen mit einem Traktor, das von Minxin filmisch festgehalten wird, bis wir am späten Nachmittag Xanthi erreichen. Hier werden wir den Abend bei Sotiris verbringen. Unser mittlerweile viertes Couchsurfing Abenteuer steht den anderen in nichts nach, verläuft aber trotzdem ungewöhnlich. Sotiris ist ein intelligenter, nachdenklicher Mensch, der uns nicht nach dem üblichen Wohin und Woher fragt. Stattdessen entwickeln sich schnell geradezu philosophisch-tiefschürfende Gespräche über Traumerlebnisse, übernatürliche Phänomene und das Weltall. Mit einem oscarprämierten Film aus dem Jahre 2014 geht es dann ins Bett, pardon auf die Couch.

Der 20jährige Student ist tot in den Bergen um Ioninna aufgefunden worden. Selbstmord. Mittlerweile spricht ganz Griechenland über den Fall sowie über das Für und Wider zum Bestrafen von Mobbing.

Inmitten der nüchternen Zweckarchitektur Kavalas (ml..) finden sich zwei architektonische Kleinode: das Aquädukt (o.m.) und die Festung (o.r.); politisches Statement auf Deutsch (u.l.); Ankunft in Xanthi (u.r.)

 

16. März: Xanthi - Komotini

Strecke: 59km

Min. Höhe: 6m, Max. Höhe: 126m

Höhenmeter: 141m

Sotiris begleitet uns noch ein Stück in das Stadtzentrum. Nach einem Abschiedsfoto wird erstmal ausgiebig gebruncht und die Altstadt von Xanthi besichtigt.

Es ist ein heller Morgen und ein Aufbruch voller Verheißung. Nach 12 Tagen Dauergrau spannt sich ein tiefblauer Himmel über die weiten Ebenen Ostmazedoniens. Wir radeln wallenden blauen Lagunen entgegen, an deren schilfbestandenen Ufern Flamingos und Kraniche nisten. Diese amphibische Landschaft mit ihren vom Wind zerzausten Kiefernwäldern bietet ein ebenso schönes wie überraschendes Bild von Griechenland.

Doch gibt es da ein kleines Problem. Denn der Wind weht aus Nordosten und genau in die Richtung geht es. Das Thema Gegenwind beschäftigt uns schon seit einigen Wochen. Den eisigen Hauch der Bora spürten wir zuerst in Italien, dann in Kroatien. Nach einem kurzen Comeback in Albanien begleitet uns das Drama nun seit einigen Tagen hartnäckig in Richtung türkische Grenze. Wie man es in der gemäßigt-subtropischen Westwindzone schafft, über Wochen Richtung Osten gegen den Wind zu radeln, ist uns ein Rätsel. Heute frischt der Wind auf Windstärke 5 auf. In einem Windkanal Fahrrad zu fahren ist weder eine interessante Herausforderung noch witzig, sondern einfach nur armselig.  Mit einer Stunde Verspätung erreichen wir genervt die Provinzhauptstadt Komotini.

 

17. März: Komotini - Alexandroupolis

Strecke: 62km

Min. Höhe: 10m, Max. Höhe: 274m

Höhenmeter: 559m

Um dem Gegenwind auszuweichen, ändern wir unsere Route. Mit einem kleinen Umweg wollen wir heute ein Gefühl auskosten, was wir bereits ein paar Minuten in Kroatien und etwa 5km vor Ohrid genießen durften: mit Rückenwind radeln. Und in der Tat sind die 8km von Sapes nach Mesti trotz einiger deftiger Steigungen bereits nach einer Viertelstunde leichtfüßig absolviert.

Die 15 Minuten nutze ich um über unsere bisherige Reise nachzudenken. Seit bald 2 Monaten sind wir jetzt unterwegs und haben etwa 2400km zurückgelegt. Ich denke daran, wie weit wir schon gekommen sind, was wir bereits alles erlebt haben, welch fantastischen Menschen wir bereits getroffen haben. Und: was uns noch alles bevorsteht. Tag für Tag rechne ich im Zeitraffer zurück bis wir im Schneeregen vor der Hauseinfahrt in Hildesheim stehen.

Überhaupt ist es unser bislang schönster Tag in Griechenland. Die grau-grünen Blätter der Olivenbäume wiegen sich in der Mittagssonne, und immer wieder eröffnen sich grandiose Ausblicke auf die Ägäisküste und die schneebedeckten Berge der Insel Samothrakis. Am späten Nachmittag kommt dann erneut starker Gegenwind auf, der uns fast von der Straße pustet und die Party ist vorüber.

Wir nächtigen heute in Nähe der griechischen Hafenstadt Alexandroupolis. Die türkische Grenze ist nur noch 50km entfernt. Es wird spannend.

 

18. März: Alexandroupolis - Feres

Strecke: 40km

Min. Höhe: 2m, Max. Höhe: 63m

Höhenmeter: 213m

Die Türkei ist das erste Land, für das Minxin ein Visum benötigt und etwas überraschend hat es nur zu einem gewöhnlichen Touristenvisum mit einer Aufenthaltsberechtigung von maximal 30 Tagen gereicht. Falls sich Chinesen überhaupt mal in die Türkei verirren, reisen sie gewöhnlich in Gruppen, schauen sich kurz Istanbul und die Sinterterrassen Kappadokiens an, bevor es nach ein paar Tagen wieder weitergeht. So oder so verändert Minxins begrenzte Aufenthaltsberechtigung den Charakter unserer Reise. Die etwa 1.600km Wegstrecke können wir unmöglich nur mit dem Fahrrad zurücklegen, wenn wir uns noch ein paar Tage Istanbul ansehen möchten und um unser iranisches Visum kümmern müssen. Daher haben wir uns überlegt, heute Abend in Nähe der türkischen Grenze zu übernachten und erst morgen frühe die Grenze zu überqueren, um nicht gleich einen Tag zu vergeuden. Morgen soll es dann vom Grenzort Ipsala mit dem Bus ins etwa 250km entfernte Istanbul gehen. Schenkt man den Berichten anderer Fahrradreisender Glauben, führt die Strecke von der Grenze nach Istanbul über eine enge, vielbefahrene Autobahn und durch eine uninteressante Landschaft.

Bereits morgen Abend am Bosporus! Das klingt fast unglaublich wenn man bedenkt, dass wir den Vormittag 300km entfernt in einer verschlafenen griechischen Kleinstadt verbringen. Im Café hat sich, wie üblich auf dem Balkan, ein angegrautes männliches Publikum versammelt. Die Rentner ziehen anerkennend die Mundwinkel nach unten, als wir von unserem Vorhaben berichten. Bald fällt das Gesprächsthema auf die Wirtschaftskrise. „Wir Griechen sind halt entspannte Menschen“ meint ein deutschsprachiger Oppa. „Wir arbeiten, um zu leben, nicht umgekehrt. Gebt uns nochmal ein bisschen Geld, wir bringen das wieder in Ordnung und passen nächstes Mal besser auf. Dann können wir Deutsche und Griechen uns gemeinsam entspannen“, schlägt er vor. Während unserem knapp zweiwöchigen Aufenthalt in Griechenland begegnen mir als Deutschen keine Antipathien, eher hören wir selbstkritische Stimmen, da man an der ganzen Misere ja eigentlich selber schuld sei. An dem Menschen lag es sicherlich nicht, dass unsere 12 Tage in Griechenland insgesamt nicht so ein Highlight wie das Überqueren der Alpen, oder das Beradeln der kroatischen Adriaküste waren. Sondern eher am Wetter, das erst mit Sonnenstrahlen geizte, um später die Regenwolken für heftigen Gegenwind einzutauschen, der uns auch heute quält.

Als wir Alexandroupolis verlassen wollen, entdecken wir zwei schwerbepackte Tourenräder am Straßenrand. Sie gehören Rita und Mario, einem Schweizer Paar, das bereits seit Oktober innerhalb Europas unterwegs ist und gerade aus der Türkei zurückkommt. Es gibt neben dem üblichen Erfahrungsaustausch eine Menge zu erzählen, sodass wir noch einen Kaffee dranzuhängen und uns erst am Nachmittag uns auf dem Weg machen.

Insofern ist heute bereits nach 40km in der Grenzstadt Feres Schluss. Wir halten vor dem erstbesten Hotel. Unser Gastwirt trägt während unseres gesamten Aufenthalts stets Bademantel und raucht Kette.

Im Fernsehen entbrennt eine hitzige Diskussion darüber, ob bzw. wie man die Komilitonen des 20jährigen Mobbingopfers bestrafen müsste. Mittlerweile sind die Täter landesweit bekannt.

Blick auf die 40km entfernte Insel Samothrakis (o.l.); geduldige Männer legen ihre Patience (o.m.); Mario und Rita aus der Schweiz (o.r.); der alte Leuchtturm ist das Wahrzeichen des ansonsten modernen Alexandroupolis (u.m.)

 

19. März: Feres - Istanbul

Strecke: ca. 250km (davon 27km mit dem Fahrrad)

Min. Höhe: 8m, Max. Höhe: 73m (nur Fahrrad)

Höhenmeter: 143m (nur Fahrrad)

Griechenland verabschiedet sich versöhnlich von uns mit Sonnenschein und ohne Gegenwind. Bereits nach einer knappen Stunde stehen wir an der stark bewachten Grenze, die auch die Außengrenze der EU darstellt. Entsprechend akkurat und gründlich erfolgt hier die Abfertigung.

Für uns ist es immer etwas Besonderes, in ein neues Land einzureisen und bereits wenige km hinter der Grenze die ersten Veränderungen festzustellen. Nachdem wir uns ohne nennenswerte Sprachkenntnisse durch Griechenland gemogelt haben, habe ich mir zum Ziel gesetzt, zumindest ein paar Wörter Türkisch zu lernen. Denn auch hier habe ich noch großen Nachholbedarf, da sich mein Wortschatz bislang nur auf ein paar Fäkalausdrücke beschränkt, die mir in der Schulzeit türkische Klassenkameraden beigebracht haben. Nun mag man meinen, dass Wörter wie „Dummkopf“ und „Esel“ ein probates  Mittel seien, um schnell durch ein Land zu kommen. Nach reiflichen Überlegungen haben wir uns allerdings für eine eher deeskalierende Kommunikationsstrategie entschieden, welche die Grundlagen der sozialen Übereinkunft respektiert.

Schon am Ortseingang das erste große Erfolgserlebnis: „Istanbul Otobusduragi? (=Bushaltestelle)“ fragen wir zielsicher und erhalten entsprechende nonverbale Auskunft – immer die Straße geradeaus bis es nicht mehr weitergeht.

Ipsala die erste Stadt hinter Grenze, liegt auf 34 Metern über Normalnull und zählt exakt 8.329 Einwohner. So steht es zumindest wie überall in der Türkei auf einem Schild am Ortseingang geschrieben – fehlt eigentlich nur noch die Anzahl der Hotelbetten und der freien Gräber auf dem Friedhof.

Die Stadt selbst ist ein staubiges Nest mit einem zentralen Platz und einer Moschee, auf der Störche nisten. Minxin erntet neugierige Blicke und interessierte Fragen. „Du bist Chinesin?“, fragt ein englischsprachiger Teenager erstaunt. Interessant, er habe zwar bisher schon viele Chinesen gesehen, jedoch nur im Fernsehen. Jacky Chen zum Beispiel.

Der Bus fährt erst um 16:00 Uhr ab, genügend Zeit also, etwas „Chai“ (=Tee) in einem Café zu genießen. Es ist ein klarer, aber kalter Tag. Die Türken und Griechen schimpfen gemeinsam über die ungewöhnlich kalte und windige Witterung – für mich als Norddeutschen sind das angesichts des stahlblauen und wolkenlosen Himmels Luxusprobleme.

Auf der Plaza von Ipsala trinken Männer ihren Nachmittagstee, Schulmädchen erledigen unter dem Kronendach der Pinienbäume ihre Hausaufgaben, Männer mit Handkarren preisen lautstark ihre Ware an.

Bevor es zum Bus geht, erfolgt unser alltägliches Ritual – die Suche nach der Toilette, während der andere auf die Fahrräder aufpasst. Heute bin ich mit Suchen dran. Ich werde gleich im ersten Dönerladen fündig, stelle aber überrascht fest, dass es nur eine Männertoilette gibt. Im Restaurant nebenan sowie in der Teestube gegenüber dasselbe Bild. „WC for women?“, frage ich den Wirt. Der Wirt nickt und zeigt bekräftigend in Richtung Pissoir. „No, for women.“ „Sorry, no understand English.“ Erst jetzt bemerke ich, dass die Wände nicht mit Tapete, sondern mit Dutzenden von leicht bekleideten Frauen behangen sind. „Aaaah, Bayan“, ruft der Wirt, als ich auf ein vergilbtes Pamela Anderson Portrait zeige. Er führt mich nach draußen, wo Guide Nummer Zwei mich an die Hand nimmt und in eine Seitenstraße führt. Dort löst Guide Nummer Drei Nummer Zwei ab. Nachdem Nummer Drei von Nummer Zwei mit allen wichtigen Informationen gebrieft wurde, endet meine Schnitzeljagd durch die schönsten Männertoiletten der türkischen Kleinstadt Ipsala an einem öffentlichen WC. Dieses ist zwar kostenpflichtig, respektiert aber die Regeln der Gender Equality. Als ich nach 20 Minuten zu Minxin zurückkehre, reagiert diese besorgt. „Alles in Ordnung? Wo warst du die ganze Zeit?“

Im Reisebus kommen wir uns vor wie im falschen Film. Seit Split haben wir – von einem kurzen Intermezzo in Albanien abgesehen – sämtliche km per Velo zurückgelegt. Es ist ein ungewohntes Gefühl, in drei Stunden eine Strecke zu machen, für die wir mit dem Fahrrad drei Tagen benötigt hätten. Zumindest können wir nun von unseren bequemen Sitzen aus erahnen, wie sich ein Busfahrer beim Anblick schwerbepackter Tourenradler fühlen muss.

Die erste größere Stadt Kesan wartet am Stadtrand mit Kartbahn, Shopping – Outlet – Center und einer Burger King Filiale auf. Burger King! Nicht, dass wir dieses amerikanische Spezialitätenrestaurant in den vergangenen Wochen vermisst hätten. Dennoch sind wir nach dem Pedalieren über den ländlich geprägten Balkan über diesen plötzlichen Ausbruch an Urbanität überrascht.

Die Strecke nach Istanbul lässt sich in drei Abschnitte unterteilen. Zunächst ärgern wir uns fast, es nicht per Fahrrad versuchtt zu haben. Die Autobahn führt durch eine flachgewellte, interessante Landschaft, das Verkehrsaufkommen ist gering. Doch mit jedem Stopp füllt sich sowohl unser Bus als auch die Autobahn. Noch erlaubt ein breiter Seitenstreifen halbwegs entspanntes Radeln, doch als dieser ca. 80km vor Istanbul verschwindet, muss Fahrradfahren ab hier einem Alptraum gleichkommen. Längst sind die Dörfer zu Städten und die Städte zu Vororten zusammengewachsen. 20stöckige Wohnblocks, gigantische Shoppingkomplexe und Industrieparks übernehmen das Kommando. Minxin, die sich unter Istanbul eher eine gemütliche Millionenstadt wie Hamburg oder Wien vorgestellt hatte, ist beeindruckt. Mehrfach fällt der Name Shanghai während wir auf den Istanbuler Busbahnhof zurollen. Dieser befindet sich ca. 15km vom eigentlichen Zentrum entfernt in einem tristen Vorort. Gemäß dem Motto „Keine Experimente“ verzichten wir, durch das nächtliche Istanbul zu radeln und wählen das erstbeste und einzige Hotel am Platz als unsere Herberge. Dieses erweist sich als stylishes Designhotel, verlangt aber auch einen stolzen Preis von 65 Euro. Wie wir bald feststellen, enden das peppigen Farben bereits zwei Meter hinter der Rezeption und weichen eigenwilligen Detaillösungen wie Brandflecken im Fußboden, defekten Toilettenspülungen und bröckelnden Putz. Nachdem das Geld bezahlt wurde, erleidet zudem das Servicepersonal einen plötzlichen Verlust der englischen Sprachkenntnisse und lehnt jegliche Kommunikation mit uns ab.

Der Busbahnhof ist bis spät in die Nacht von lautem Gejohle und Trommelschlägen erfüllt. Besiktas Istanbul spielt heute in der Europa League gegen Brügge und führt bereits 1:0. Als der Gegner aus Belgien in der Schlussphase drei Tore schießt, ist Besiktas schnell draußen und die nächtliche Geräuschkulisse sackt in sich zusammen. So oder so sind wir am nächsten Morgen froh, diesen Ort endlich verlassen zu können.

Moscheen, Menschen, Megalopolis; nach dem beschaulichen Griechenland übernehmen Shoppingcenter, McDonalds und Bowlingbahnen das Kommando; Storchennester in Ipsala (m.l.); tränenreicher Abschied von der Familie (m.m.); we proudly present: das ekelhafteste Essen bisher am Istanbuler Busbahnhoif (u.l.)

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Kommentare: 4
  • #1

    zhangxiaoling (Sonntag, 22 März 2015 09:20)

    看你们一路上吃的面食,没米食,你还习惯吧?

  • #2

    zhangxiaoling (Sonntag, 22 März 2015 09:21)

    路过桃花林还是杏花林的时候,一定心情很好吧?这一路上见到了这么多不同的风景,再累也值得。

  • #3

    zhangxiaoling (Sonntag, 22 März 2015 09:44)

    你瘦了。

  • #4

    Christof (Sonntag, 22 März 2015 17:28)

    Inge und ich beglückwünschen Euch für Eure bisher gelungene phantastische Reise! Besonders die Bilder sind wunderschön und hochinteressant. Wir freuen uns immer, wenn wir auch Euch selbst erkennen - vielleicht kann Flo auch mal Minxin aufnehmen. Weiterhin viel Glück und bleibt bitte gesund.
    Inge und Christof