Bergidylle mit saudischen Scheichs

Nachdem zunächst Finanzierungsgespräche mit potenziellen saudischen Investoren scheitern, meistern wir an einem Tag gleich drei Herausforderungen, verabschieden uns dann schweren Herzens nach 30 Tagen aus der Türkei nach Georgien, lernen dort, dass eine Kreuzfahrt wenig landschaftliche Abwechslung bietet, werfen einen letzten Blick auf das Meer, fungieren als Testurlauber, durchschauen die Machenschaften der georgischen Werbeindustrie, stellen einen neuen Höhenrekord auf (der allerdings auch eine kurze Busfahrt beinhaltet), bis wir schließlich in der georgischen Provinz Erlebniseinkäufe tätigen und über die jahrtausendalte Kultur und Geschichte der Kaukasusrepublik staunen.

 

16.-17. April: noch in Trabzon und Umgebung

Däumchendrehend  nippen wir in Dönerbuden an unserem Tee, während wir auf unser iranisches Visum warten. Dieses soll am Freitag fertig sein. Um Mitternacht müssen wir die Türkei verlassen haben. Das Thema Fahrradfahren und Türkei hat sich also erledigt.

Die Wartezeit überbrücken wir mit einem Tagesausflug zum Uzun Göl, den langen See, welcher sich 100km südöstlich von Trabzon im Pontischen Gebirge befindet. Ein Minibus sammelt uns um 10 Uhr morgens ein. Vorne sitzen drei gutgelaunte türkische Frauen, welche während der zweistündigen Busfahrt den Rest der Tagesausflügler zu Bauchtanz und karaokeähnlichen Gesangseinlagen animieren. Auf den Plätzen hinter uns hat ausschließlich saudisches Publikum Platz genommen. Bestens. Saudis könnten sich als wichtige Geldgeber für unser Reiseprojekt erweisen. Meine ersten Begegnungen mit den saudischen Wüstensöhnen stammen aus dem Jahr 2000, als ich in Ägypten im Auftrag meiner Universität das Reiseverhalten arabischer und westlicher Touristen empirisch untersuchte. Während mir deutsche Urlauber  nach der Besucherbefragung eine Zigarette oder drei abgezählte Kartoffelchips anboten, luden mich die Scheichs – obwohl sie selber kein Alkohol trinken – auf eine Flasche Dujardin ein. Unsere weiblichen Kommilitonen durften zwischen einer Literflasche Chanel oder Chloé wählen, und falls beides nicht zusagte, wurde man kurzerhand mit 300 US Dollar abgefunden.

15 Jahre später wären uns ähnliche Summen doch sehr zupass. Denn Minxin braucht neue Packtaschen, ich könnte mit einem E-Antrieb für mein Bike gut leben. Doch wir hoffen umsonst. Offensichtlich unterliegen heutzutage selbst saudische Multimillionäre gewissen Sparzwängen. Der belanglose Smalltalk endet nach 5 Minuten ergebnislos im Nichts.  

Dafür entschädigt uns der smaragdgrüne Bergsee mit seiner Postkartenidylle. Während der Rest der Ausflugsgesellschaft es bevorzugt, einmal in einer dreiviertel Stunde den See per Fuß zu umrunden, suchen Minxin und ich als waghalsige Outdoorfetischisten den Kick abseits der ausgetretenen Pfade. Wir laufen den Fluß, der von Norden in den See mündet, bergauf bis wir an einem kleinen Stausee angelangt sind. Etwa 50 Meter neben uns hat sich ein junges und knutschendes türkisches Paar niedergelassen, das wohl auch lieber alleine gelassen werden will.

 

High Noon am nächsten Morgen, der auch gleichzeitig unser letzter Tag in der Türkei sein wird. Ich kann eine gewisse nervöse Anspannung nicht leugnen und das hat drei Gründe:

Zum Ersten muss heute unser Visum fertig sein, da wir zweitens bis Mitternacht aus der Türkei raus sein müssen. Wir brauchen neben einem Stempel im Pass also zwei Tickets und einen netten türkischen Busfahrer, der unsere Fahrräder mitnimmt. Doch es ist Freitag und die Busse sind oft bereits ausgebucht. Aber als noch höhere Hürde stellt sich die dritte Herausforderung dar: St. Pauli tritt heute Abend ersatzgeschwächt im Abstiegskampf gegen den 1. FC Nürnberg an. Trotz ungünstiger Voraussetzungen sind drei Punkte Pflicht.

Machen wir’s kurz: nach einer kurzen Machtprobe halten wir um 16:30 Uhr das türkische Visum in den Händen. Auch die Tickets sind schnell gekauft, am Busbahnhof möchte man uns allerdings pro Fahrrad einen Aufpreis von je 40 Euro aufschwätzen. Erst nach eine langwierigen Diskussion ist der Betrag auf je 10 Euro pro Rad runtergehandelt. Schade, wir hatten die Türken in den ersten 29,5 Tagen anders kennengelernt. Das wichtigste Problem Nummer drei erweist sich erwartungsgemäß als die härteste Nuss. Lange deutet alles auf eine öde Nullnummer hin, die angesichts der prekären Tabellensituation nicht wirklich weiterhilft. Als bereits alle Hoffnung schwindet, stoße ich in der 91. Minute einen infernalischen Freudenschrei quer durch den Bus aus: 1:0 nach einer nicht mal regulären Ecke!

Die Fahrt Richtung Grenze und die Abfertigung an ebenjener dauert wie erwartet länger als von den türkischen Busunternehmen prognostiziert. Minxin bekommt gerade noch rechtzeitig um 23:40 Uhr den türkischen Ausreisestempel in den Pass.

Um 1:30 Uhr sind wir schließlich dort, wo ich bereits fünf Tage zuvor gewesen bin. Die letzten 14km von der Grenze bis Batumi legen wir in einem betagten Ford Transit zurück, der interessanterweise auch genau auf 14 Kilometer pro Stunde kommt. Die Küste wirkt hier weniger zugebaut als wenige km südlich jenseits der Grenze, verfallene sowjetische Strandvillen wecken unbekannte Bedürfnisse nach Meer und Badeurlaub. Batumi ist auf Touristen eingestellt und bietet die ganze Klaviatur von der internationalen Luxusherberge bis zur verruchten Absteige aus der Sowjetzeit. Wir entscheiden uns für das untere Ende und beziehen in einem alten Arbeiterwohnheim Quartier. Die Holztür schließt nicht richtig, das warme Wasser bleibt ein halbgares Versprechen, die Matratze zeigt Spuren kulinarischer und erotischer Abenteuer, sodass wir mit dem Schlafsack vorlieb nehmen müssen.

 

Vor uns liegen nun 2 Wochen Georgien, hinter uns 30 Tage Türkei. Wir haben die Türkei und ihre Menschen zu schätzen und lieben gelernt.

auf Investorensuche am Üzüngol (oben); zurück in Trabzon (unten)

 

18. - 19. April: in Batumi

Batumi ist: toll! Das muss an allererster Stelle gesagt sein. Subjektiv avanciert die 120.000 Einwohner Schwarzmeermetropole zu meiner heimlichen Lieblingsstadt während unserer bisherigen Reise.

Nichts erinnert mehr an den Trubel und Lärm der türkischen Schwarzmeerküste. Familien picknicken im Stadtpark und genießen die Mittagssonne, Teenager wagen die ersten zaghaften Ausflüge ins noch kalte Meer, Fischer dösen auf ihren buntangemalten Booten. Wir treffen den Finnen aus Trabzon wieder. „It’s so quiet and relaxed over here. Just like in Finland“, schwärmt er uns vor.

Wir befinden uns nun  in einem christlich geprägten Teil der ehemaligen Sowjetunion. Auf den Speiskarten entdecken wir neben georgischen Delikatessen Pelmeni und Borschtsch. 1991 erklärte sich Georgien als unabhängig und trat aus dem sowjetischen Staatenbündnis aus. Die Euphorie war nur von kurzer Dauer, denn bald waren die meisten Betriebe pleite und das Geld nix mehr wert. Georgien litt von allen ehemaligen Sowjetrepubliken am heftigsten unter der Transformationskrise, befindet sich jedoch seit der Rosenrevolution im Jahre 2004 auf strammen wirtschaftlichen Erholungskurs. Neben die alte Strandpromenade hat man in Batumi kurzerhand eine neue mit markierten Fahrradwegen gesetzt. Unweit davon wächst eine bizarre, bunte Skyline mit Minaretten, Türmen und Spiegelglasfassaden aus dem Nichts in die Höhe. Dubai en miniature. Dahinter die Altstadt mit russischer und kaukasischer Architektur aus dem 19. Jahrhundert. Einige Gebäude tragen noch die verblichene Patina vergangener Tage, vielerorts war aber bereits der Sanierer da und hat die alten Fassaden auf Hochglanz getrimmt. Das durchaus ansehnlich, wenngleich manchmal etwas überambitioniert, wie goldene Engel und einige sehr verschnörkelte Fassaden zeigen.

Die meisten Touristen kommen jedoch hierher, um in den zahlreichen Casinos ihr Geld zu verjubeln. Am Vormittag hören wir vor dem Sheraton Hotel sehr vertraute Worte: „Ey, ihr Spastis, lauft nicht in mein Bild, mein Akku ist bald leer.“

Eine deutsche Begegnung erleben wir später auch im „Hofbräuhaus“. Ein älteres Rentnerehepaar aus Potsdam lässt sich am Tisch nebenan nieder und wir kommen schnell ins Gespräch. Sie befinden sich gerade auf einer Kreuzfahrt und mögen Batumi genauso so wie wir. Die Landgänge böten eine willkommene Abwechslung, denn „auf dem Meer ist es ja langweilig, immer dasselbe: Wasser, Wasser, Wasser“. Wasser gäbe es ja auch in Potsdam oder Berlin. Wir bedauern die Umstände des Ehepaares, weisen aber gleichzeitig daraufhin,  dass es durchaus üblich sei, auf Kreuzfahrten Wasser zu sichten. Das allein sei ja nicht alles, entgegnet man uns, auch der Pool sei dreckig und die Mitreisenden unerträglich. Das allerdings glauben wir aufs Wort. Wenige Minuten später wird uns ein weiteres Rentnerehepaar vorgestellt, das grußlos an uns vorbeieilt.

Urbane Vielfalt in der Nußschale: Batumi am Schwarzen Meer


19. April: Batumi - Keda

Strecke: 41km

Min. Höhe: 7m, max. Höhe: 148m

Höhenmeter: 261m

Es gibt viel zu sehen und ebenso viele Gründe, ein paar Tage in Batumi zu bleiben. Leider kommt der Wetterbericht für die folgenden Tage einer wahren Gehirnamputation gleich. Ab übermorgen ist für die Region fünf Tage langer Dauerregen angesagt. In Batumi, das ein ähnliches Klima wie Nizza oder Rimini aufweist, sollen die Temperaturen auf 8 Grad Plus abkühlen – am Tage!

Wir stehen vor der Wahl: entweder morgen noch einen Tag in Batumi dranhängen, um das Sightseeing – Programm zu komplettieren oder die letzten Sonnenstrahlen nutzen, um Georgien zumindest einen Tag bei schönen Wetter zu beradeln. Unabhängig davon spricht gegen beide Szenarien unser Vorhaben, Batumi Richtung Osten zu verlassen und einen 2000 Meter hohen Pass zu überqueren – dieser dürfte dann zugeschneit sein.

In Batumi selbst hören wir widersprüchliche Meldungen über den Straßenzustand am Pass, die von „Seid ihr verrückt? Da liegen 3 Meter Schnee!“ bis hin zu „Isn büschen kalt da, aber sonst kein Problem“ reichen. Letztendlich entscheiden wir uns für einen Kompromiss und verlassen Batumi am nächsten Nachmittag. Und zwar, trotz einiger deutlicher Warnungen, wie geplant in Richtung Gebirgspass.

Von nun an werden wir bis Shanghai auf unserer Reise kein Ozean mehr sehen. Während ich mich seit Wochen mit jedem km aus meiner vertrauten Umgebung entferne, fährt Minxin langsam aber unaufhaltsam ihrer Heimat entgegen

Die Straße verläuft durch ein abgelegenes, romantisches Tal. Üppig sprießen Teeplantagen und Walnußwälder an den Hängen, in der Ferne leuchten schneebedeckte 3000er. Fast wähnt man sich in Südwestchina - selbst Nepal lässt grüßen - bis aus der Ferne der Ruf des Muezzins erklingt. Wir befinden uns nicht im Himalaya, sondern in Adscharien, einer autonomen Region Georgiens, die vom 16. bis 19. Jahrhundert unter osmanischer Herrschaft stand. Ein Drittel der Einwohner Adschariens sind Muslime.

Die Zukunft des Tales ist längst vermessen, kartographiert und projektiert. Auf unserer 90km langen Strecke von Batumi zur Passhöhe sichten wir drei gigantische Staudammprojekte, welche die Energieprobleme des Landes endgültig beheben sollen.

Später rasten wir an einer hypermodernen Tankstelle und staunen über die Vielfalt der Spritsorten. Vom billigen Russenfusel bis zum 98 Oktan Feinschmeckersprit für die zahlreichen SUV-Dickfische ist hier alles zu haben

Ein junger Mann erscheint und stellt sich in perfekten Englisch als Roi vor. „Eigentlich bin ich zur See gefahren, doch nun möchte ich den Tourismus in meinem Dorf fördern. Kommt doch mal mit!“ Wir bleiben vor einer Wohnung stehen, die gerade nicht genutzt wird. Äußerlich eine Bruchbude, wartet innen eine gemütliche Stube mit frisch gemachten Bett auf uns. Klasse!

Am Abend sind wir bei Roois Familie auf ein Glas selbstgekelterten Rotwein eingeladen. Aus der Ecke plärrt uns das georgische Pendant von „Deutschland sucht uns ein Superstar“ und „Wer wird (Lari-) Millionär“ aus einem alten Röhrenfernseher entgegen Unterbrochen werden diese Formate von Werbepausen, in den es primär darum geht, möglichst schnell Kopf- und Bauchschmerzen durch Alkoholkonsum zu bekommen, und diese dank der Einnahme von Pharmaka wieder loszuwerden.

Wir reden über die Zukunft Adschariens. Seit einigen Jahren investiert die Regierung viel Geld in den Aufbau eines Ökotourismus. Als erstes wurden alle baufällig wirkenden Häuser saniert und neu angemalt. Dann sollen Unterkunftsmöglichkeiten entstehen. Unsere Herberge wird beispielsweise bald zum Gästehaus hergerichtet werden und wir dienen, wie man uns verrät, als inoffizielle „Testurlauber“. Dabei fragen wir uns, wie diese Gegend mal in fünf Jahren aussehen wird, wenn sie touristisch komplett vermarktet sein wird. Schön ist es hier ja schon – neben der Landschaft, gibt es zahlreiche Wasserfälle, Festungen, uralte Brücken und Weingüter zu besichtigen.

üppig spriessts in Abchasien (o.l.), unsere Unterkunft von außen (m.l.), Sprit für alle Geschmäcker (m.u.), für uns gabs dagegen am Abend Wein (r.u.)

 

20. April: Keda - Shuakhevi

Strecke: 40km

Min. Höhe: 121m, max. Höhe: 454m

Höhenmeter: 609m

Das Wetter hat wie erwartet umgeschlagen. Ein feines weißes Kleid aus Nebel umgarnt die Hänge beiderseits des Flusses. Weniger romantisch formuliert, ist es der Auftakt zu einer gnadenlosen Schlechtwetterperiode. Trotz heftiger Regenfälle radeln wir unermüdlich Richtung Pass. Noch befinden wir uns auf nur 100 Metern Höhe, unser heutiger Zeltplatz liegt aber bereits auf 450 Metern.

So. Das wars dann schon für heute.

uralte Steinbrücke (l.o.), Sowiet Relikt (r.o.), Staudammprojekt (l.u.)

 

21. April: Shuakhevi - Riketi

Strecke: 36km

Min. Höhe:449m , max. Höhe: 1306m

Höhenmeter: 1.118m (Rekord)

„Wenn ihr früh aufbrecht, schafft ihr es heute noch über den Berg.“ So hat man es uns gestern zumindest gesagt. Als wir Zelt und Schlafsack auf unseren Fahrrädern verstaut haben, ist es aber bereits 10:30 Uhr. Wir sind halt notorische Spätaufsteher.

1500 Höhenmeter ahnen zwischen uns und der Passhöhe, das sind gut dreimal so viele, wie uns der Reschenpass abverlangt hat. Auf den ersten km begegnet uns Damien aus Frankreich, der mit seinem Motorrad auf dem Weg in die Mongolei ist.

Die Mittagspause verbringen wir in Khulo, der letzten Stadt vor der Passhöhe. Hier holen wir noch ein paar Expertenmeinungen ein, und stellen fest, dass diese sehr divergieren. Gefühlt jeder männliche Bewohner Khulos möchte seine Meinung mittteilen, und falls die Sprachbarriere eine zu hohe Hürde darstellt, wird eben die englischsprachige Tochter per Handy zugeschaltet. Obwohl irgendwann der Expertenpool auf zwei etwa 16jährige Mädchen mit überraschend guten Englischkenntnissen und zwei älteren Männern, die uns zu sich nach Hause einladen wollen, zusammengeschrumpft ist, ergibt sich noch immer kein klares Bild.

Doch dann passiert etwas völlig Unvorhergesehenes – die Wolkendecke bricht auf und Sonnenschein flutet das Tal. Obwohl dieser unverhoffte Schönwettereinbruch nur eine halbe Stunde andauert, wirkt er wie eine Vitaminspritze: wir schwingen uns auf die Fahrräder und radeln Richtung Passhöhe davon.

Ab Khulo ist die Straße nicht mehr asphaltiert, die Dörfer eine Ansammlung von windschiefen Holzhütten. Rostige Schiguli Lada bahnen sich ihren Weg durch aufgerissene Lehmwege. In den winzigen Tante Emma Läden wird der Preis noch mit dem Rechenschieber berechnet. Doch selbst hier kann man Kölln Schokomüsli und Nutella in verschiedenen Gewichtsklassen kaufen und das dafür benötigte Bargeld aus einem der knallorangenen Bankomaten ziehen. Was uns noch auffällt? Die optimistische Grundhaltung der Menschen hier. Es ist das erste von uns bereiste Land, in dem Menschen unterschiedlichsten Alters behaupten, ihnen ginge es besser als vor 10 Jahren. Noch verblüffender: Georgien ist das erste Land seit Kroatien, das kein offensichtliches Problem mit der Müllentsorgung zu kennen scheint.  

Der Weg zur Höhe ist wesentlich länger als auf dem Wegweiser in Khulo. angegeben Heute werden wir es nicht mehr nach oben schaffen. Wir stoppen in Riketi auf 1300 Meter Höhe vor dem ansehnlichsten Gebäude des Dorfes. Eine Gruppe von Männer ist damit beschäftigt, eine Motorsäge wieder flottzukriegen und nimmt keine Notiz von uns, was recht untypisch in Georgien ist. Lediglich ein jüngerer Herr mit Tätowierung verwickelt uns in ein rudimentäres Gespräch, wo es um georgischen Wein geht. Zumindest meine ich das aus dem Russischen rauszuhören. „Können wir in Ihrem Garten unser Zelt aufbauen und dort übernachten?“ fragt Minxin stichwortartig einen Mann im blauen Kittel. Dieser sieht kurz nach oben und nickt stumm mit dem Kopf. Dann widmet er sich mit seinen Kollegen wieder der Motorsäge. Eine Weile passiert gar nichts. Minxin und ich stehen im Regen, während die Motorsäge ausgiebigen Belastungstests unterzogen wird. Der Mann mit Tätowierung ist mittlerweile von Wodka kommend bei Cocktails angelangt und wir wollen wieder entnervt aufbrechen, als uns der Blaukittel schließlich bittet, mitzukommen. Nachdem unsere Fahrräder in einem Geräteschuppen verstaut sind, wartet nach über 1.100 Höhenmeter noch die anstrengendste Wegstrecke des Tages. Über einen matschigen Pfad geht es steil nach oben, bis wir vor einem Bauernhaus stehen bleiben.

Natürlich möchte man uns bei diesem ungemütlichen Wetter nicht eine Nacht im Zelt zumuten, und lädt uns daher in die warme Stube ein. Temuri (=der Blaukittel) besitzt den einzigen Verkaufsladen in Riketi, ist aber im Haupterwerb Bauer. Seine Familie besitzt eine Waschmaschine, einen Flachbildschirmfernseher, eine Staubsauger und ein Plumpsklo. Etwas überraschend wird uns kein Alkohol angeboten, obwohl so etwas in Georgien selbstverständlich ist. Sind wir bei Muslimen zu Gast? Immerhin müssen wir uns heute Abend nicht besaufen. Auch gut.

Wir werden im ersten Stock untergebracht, wo man extra für uns ein Gästezimmer hergerichtet hat.  Wir sind erstaunt über soviel Gastfreundschaft. Die Nacht verläuft dementsprechend angenehm, lediglich das Muhen der Kühe im Erdgeschoss reißt uns ein paar Mal aus dem Schlaf.

empirische Befragung ob des Straßenzustands (2. Reihe von oben, mitte); psychedelische Tapete im Wohnzimmer bei unseren Gastgebern (r.u.)

 

22. April: Riketi - Akhaltsikhe

Strecke: 68km (davon 51km mit dem Rad)

Min. Höhe: 965m, max. Höhe: 2032m (1765m mit dem Rad)

Höhenmeter: 306m (nur Rad)

Die letzten 8km bzw. 700 Höhenmeter bewältigen wir entgegen unserer Pläne nicht mit Muskelkraft. 

Der Dauerregen ist über Nacht in Schnee übergegangen und hat die Berghänge rund um Riketi angezuckert. Jegliche Versuche, unser Fahrräder für die letzte Bergetappe fit zu machen, werden von Temuri energisch unterbunden Anscheinend ist die Straße nun (für Fahrräder) nun doch unbefahrbar. Doch  Temuri hat einen Kleinbus organisiert, der uns mitnehmen kann. Daher auch hier nochmal: vielen Dank!

Ab 1500 Meter ist die Straße zugeschneit, weitere 200 Meter höher türmen sich entlang der Fahrspur Schneewände, die auf der Passhöhe bis auf wahnwitzige 3 Meter anwachsen. Nun verstehen wir auch die widersprüchlichen Aussagen der Menschen, die wir seit Batumi befragt hatten. Ja – hier auf 2000 Metern liegt 3 Meter hoch Schnee, robuste Kraftfahrzeuge können diese Strecke aber mit etwas Geduld bewältigen.

Auf der Ostseite herrscht ein wesentlich trockeneres und moderateres Klima, sodass wir kurz nach der Passhöhe den Bus verlassen und uns wieder auf eigene Faust weiterbewegen. Die Gegend ist kaum besiedelt und dichtbewaldet. Obwohl der Schnee uns nur noch aus der Luft verfolgt, geht es nur langsam voran. Mehrfach verläuft der Weg über (mit)reißende Bäche, richtig ernst wird es aber, als uns ein paar russische Touristen auf (na was wohl?) ein paar Gläser Schnaps einladen. Immerhin sind es wohlhabende „Stadtrussen“ aus Moskau, die statt selbstgebrannten Fusel edlen Cognac im Gepäck haben. Wir überstehen die erste ernsthafte Alkoholprobe relativ unbeschadet und rollen unbekümmert die Passstraße nach unten, bis wir nach 2 Tagen wieder geschmeidigen Asphalt unter unseren Rädern verspüren.

Unsere heutige Etappe endet in der 18.000 Kreisstadt mit dem unaussprechlichen Namen Akhaltsikhe. Nach fünf Nächten in einfachen bzw. improvisierten Unterkünften soll es heute mal ein Hotel mit fließend warmen Wasser sein. Doch Georgien ist für uns noch eine Wundertüte, zu groß sind die Kontraste, als dass wir die Beherbergungssituation vor Ort einschätzen könnten.

Die Stadt liegt im Schatten einer gewaltigen Festung, das Zentrum dominieren stolze Sowjetbauten. Eines davon beherbergt das pompöse Lomsia Hotel, das unglaubliche 100 Euro pro Doppelzimmer verlangt. Doch Alternativen sind vorhanden und wir finden unweit entfernt eine grundsolide und preiswertere Alternative. Direkt nebendran befindet sich ein blitzblank gestylter Supermarkt mit, WiFi Hotspot, englischsprachigen Personal, Espresso Lounge und Eichhörnchen – Logo. Der Anblick von Mangos, Ananas und Schokocroissants versetzt uns in pure Ekstase, sodass wir beherzt zugreifen und uns die allabendliche Suche nach einem Restaurant sparen. Georgischer Erlebniseinkauf!

im Bus entlang der Schneewächten zum Goderzipass (oben); auf der anderen Seite können wir weiterfahren (2. Reihe); "Alkoholprobe" mit Russen (mitte)

 

23. April: in Akhaltsihke

Am nächsten Tag reicht ein Blick aus dem Fenster, um unsere Pläne zu ändern und einen Ruhetag einzulegen. In strömenden Regen laufen wir durch die Altstadt von Akhaltsikhe zur Festung hinauf. Seit 2012 erstrahlt die riesige Anlage in neuem Glanz. Es gibt nun Audio Guides, ein nobles Spezialitätenrestaurant und ein Museum, vollgestopft mit Ausgrabungen und Artefakten aus der 5000tausendjährigen georgischen Geschichte.

Georgien nahm schon immer eine wichtige strategische Position zwischen seinen übermächtigen Nachbarn ein. Dieses Spannungsfeld hat die Region seit Jahrhunderten geprägt, weil dadurch die unterschiedlichsten Einflüsse auf das Land einwirkten und letztlich die Kultur auch bereicherten. Hethiter, Assyrer, Römer, Griechen, Kaukasier, Türken und Russen hinterließen hier ihre Spuren. So schrill und faszinierend wir Georgien in der Gegenwart erleben, so interessant scheint auch die Vergangenheit.

die Festung von Akhaltsikhe (r.o.), Blick auf die Stadt (m.r.), Eichhörnchensupermarkt (m.u.)

Kommentare: 7
  • #7

    Tobias Rust (Dienstag, 30 Juni 2015 07:29)

    WESERGOLD !!! Wahrlich eine Qualitätsmarke von Welt! :)

  • #6

    anke meinzen-spark, wuppertal (Samstag, 30 Mai 2015 21:45)

    hallo, u2,
    Vielleicht erinnert ihr euch noch an Füssen im Schnee, als wir euch mit euren Rädern entdeckten und ganz erstaunt auf eure Antwort auf unsere Frage "Wo wollt ihr denn hin?" reagierten.
    Nun verfolgen wir euch auf eurer tollen Reise und kriegen auch Fernweh...
    Wir wünschen euch weiter tolle, intensive Erlebnisse, viele wunderbare Begegnungen und viel Glück!!!
    Anke und Ferdinand Meinzen

  • #5

    Michael Marfels (Mittwoch, 06 Mai 2015 07:29)

    Hallo, lieber Floh,
    Jenny hat mir bei ihrem Besuch am Wochenende in Bramsche, wo ich jetzt wohne, von Eurer Abenteuer-Fahrradfahrt erzählt, so dass ich mir gerade Euren Reisebericht angesehen habe. Toll, was Ihr da vorhabt.Ich wünsche Euch weiter viel Glück für diese Reise und hoffentlich nur angenehme Erlebnisse.
    Herzliche Grüße Dein Michael Marfels

  • #4

    Christof (Freitag, 01 Mai 2015 17:04)

    Die bisherige Fahrt reicht bereits für ein großes erlebnisreiches Reisebuch - mit tollen Bildern. Gut, wiedermal etwas von Euch zu hören, denn zwischendurch war etwas lange Funkstille. und wieder derselbe Wunsch: gute Fahrt und bleibt gesund.

  • #3

    Zhangxiaoling (Freitag, 01 Mai 2015)

    格鲁吉亚的景色好美啊,尤其是晴天的那几张,最喜欢穆斯林的建筑风格了。妹子,你瘦多了,可能你自己还感觉不到,你再比比你出发前的照片,瘦了,而且是长条肌肉的那种修长体型,简直一个职业的自行车运动健将的身材啊!

  • #2

    peter kirberger (Freitag, 01 Mai 2015 08:52)

    hallo, danke für die berichte und die fotos.

  • #1

    Tobi (Dienstag, 28 April 2015 23:04)

    Ah, so sieht also der Pass aus. Mit Schnee. Gut, dass wir damals uns dann für die Alternative über Kutaissi entschieden haben...
    Viele Grüße!
    Tobi