Großfahndung im Schnee

Diesmal lest ihr, wie wir uns auf uns alleine gestellt auf dem Weg machten, um sehr nette Gastgeber kennenzulernen, später den langhaarigen Kindern entkamen und den ersten bescheidenen Alpenpass meisterten.

 

26. Januar: München – Peissenberg; geht aber auch kürzer ;)

 Strecke: 75 km

Min. Höhe: 527 m, Max. Höhe: 630 m

Höhenmeter insgesamt: 346 m

 

Ich strample durch die Auen des tiefverschneiten Rieds südlich des Ammersees und komme nicht vom Fleck. 12km pro Stunde. Ich beschleunige das Tempo, der Geschwindigkeitsrausch steigert sich auf 14 km/h. Es wird nicht schneller, da auch der Höhenmesser rechnet: ständig kommt ein Meter dazu. Vor mir ragen die Gipfel des Wettersteingebirges auf und ich weiß was uns jetzt erwartet: die Alpen und die ersten Steigungen. 

zwischen Ammersee und Weilheim
zwischen Ammersee und Weilheim

Wir sind am Morgen in München aufgebrochen. Dort haben wir endgültig Abschied genommen von vertrauten Personen und bekannten Orten. Das letzte Mal das Hacker Pschorr Brauhaus besichtigt, dem Viktualienmarkt einen Besuch abgestattet und die Ineffizienz des Münchner ÖPNV in vollen (Nahverkehrs)zügen genossen. In den zwei Tagen konnten wir auf den Korpsgeist des chinesischen Netzwerks von Minxin zählen, die uns Asyl gewährt und lecker bekocht haben.

Abschiedsfoto.
Abschiedsfoto.

Nun sind wir erstmal auf uns alleine gestellt, das heißt auf nette Gastwirte oder „Privatpersonen“, die uns auf ihrer Couch übernachten lassen. Couchsurfing hat sich in den vergangenen Jahren als soziales Netzwerk etabliert und vermittelt kostenlose Unterkünfte zwischen Reisenden. Heute Abend sind wir auf einem Hof im oberbayrischen Peissenberg eingeladen. Was uns wohl erwarten wird? Eine holde Schankwirtin mit zwei Bierkrügen in der Hand, die uns in ihre gemütliche Stube mit frisch gemachtem Bett einlädt? Oder 20 Hipster mit dicker Brille und Zipfelmütze, alle über den Laptop gebeugt, die uns in Windeseile noch eine durchgeleierte Matratze in der Abstellkammer klarmachen können?

„Der Hof ist etwas abgelegen und schwer zu finden, außerdem sind 50 Höhenmeter zu überwinden“, so ungefähr der Wortlaut der SMS unserer Gastgeberin Barbara.

zwischen München und Ammersee
zwischen München und Ammersee
Ammersee
Ammersee

Wir erreichen am späten Nachmittag Weilheim. Jetzt nur noch ein paar Hügel überqueren, dann durch das kleine Dorf Peissenberg und schon sind wir da. Leider entpuppt sich Peissenberg als ein kaum zu bändigender Bandwurm, da sich die ungefähr 13000 Einwohner erstaunlich akkurat auf eine einzige etwa 10km lange Durchgangsstraße verteilen. Wenig später der nächste Schock: ein kleines Schild verweist auf einen 3km langen steilen, zugeschneiten Waldweg nach oben. Wir erreichen den ersten Hof. Es erscheint Landwirt #1, ein fescher Enddreißiger mit adretten Kurzhaarschnitt und Hosenträgern: „No, der Siglhof ists hier net, da seids total falsch. Fohrts wieder runter und nehmts die erste Biegung rechts“. Wir schieben unsere Drahtesel den Hang hinunter, stapfen durch den  tiefen Schnee, um uns Hof #2 vorzunehmen, während sich GPS und Smartphone aus dem Dienst wegen zu schwacher Akku verabschieden. Wir treffen auf Landwirt #2.

Wir: „Ist das der Siglhof?“

Er: „Naa“.

Wir wieder: „Also, wir haben ein Problem. Wir suchen den Siglhof und es ist ziemlich kalt und dunkel und wir wissen nicht welchen Weg wir nehmen müssen. Entweder hier weiter. Nee, eher zurück, oder?“

 „Woll, woll“

„Können wir den per Fahrrad schnell erreichen? Sollen wir wieder auf die Bundestrasse? Ist doch nicht mehr so weit, oder?“

„Woll, woll“

„Oder machen wir so. Rufen Sie den Besitzer des Siglhofs an. Unser GPS ist leer, das Smartphone leider auch. Laptop auspacken und die Adresse und Telefonnummer raussuchen ist wohl zu umständlich. Vielleicht haben Sie ja die Festnetznummer und können sagen, dass es später wird. Oder wir reden selber mit ihm“

„Naa.“

„Wieso…?“

 „Den ham die Touristen wahrscheinlich scho längst totgeredet.“

Was nun? Laut der Fahrradkarte existieren im näheren Umkreis etwa 25 Bauernhöfe, die im Schnitt 500m voneinander entfernt liegen. Legt man 15 Minuten für eine Sichtung inklusive Blitzinterview zugrunde, könnten wir also bis 1:30 Uhr das Gebiet systematisch erfasst haben.

Am Ende kommt es halb so schlimm wie erwartet, denn mit Hof #3 haben wir Glück, es ist tatsächlich der gesuchte Siglhof. Das eingangs erwähnte Hinweisschild, das eine 3,1km lange Strecke ankündigt, ist, wie wir später erfahren werden, erst in den letzten Tagen errichtet worden und verweist auf einen ausgedehnten Wanderweg. Im Prinzip befindet sich unser Hof ziemlich genau da, wo wir angefangen haben zu suchen und war relativ einfach zu finden. Soso. Wir wurden vom Peissenberger Tourismusbüro also hinterhältig auf eine falsche Fährte gelockt…

Barbara bewohnt mit ihrer Familie den Siglhof. Wie die meisten Landwirte betreiben sie den Hof nur noch als Nebenerwerb und gehen einer geregelten Arbeit nach. Ab und zu schauen auch Couchsurfer vorbei.

Der heutige Besuch nimmt erstmal ausgiebig lange warme Dusche. Wenig später landet ein dampfender Topf Gulasch auf dem Tisch. Dazu gibt’s reichlich Bier und schnell kommen interessante Gespräche in Gang. Wie sich herausstellt, war Barbara bereits mehrfach in der Heimat von Minxin und Uli kennt das berüchtigte Hannoveraner Nachtleben durch Messebesuche mindestens so gut wie wir. Später, mittlerweile ein paar Biere über Soll, torkele ich die knarzende Holztreppe nach oben und falle sofort in einen komatösen Schlaf.

unsere Gastgeber in Peissenberg
unsere Gastgeber in Peissenberg

 


27. Januar: Peissenberg – Halblech bei Füssen

Strecke: 37 km

Min. Höhe: 630 m, Max. Höhe: 850 m

Höhenmeter insgesamt: 407 m


Am nächsten Morgen, nachdem Minxin noch eine Führung quer über den Bauernhof absolviert hat, nehmen wir nach einem Frühstück Abschied von unseren supernetten Gastgebern. Kein Geld, nur Interessen an uns und unserem Vorhaben. „Übrigens: nehmt euch in Füssen vor langhaarigen Kindern in Acht, das sind Sektenmitglieder“, ruft man uns hinterher. „Und ihre Eltern?“, wollen wir wissen. „Die auch. Tragen ebenfalls lange Haare“. Wir sind gewarnt.

muß halt auch sein:bergauf fahren
muß halt auch sein:bergauf fahren

Es hat in der Nacht 15cm geschneit, und zu allem Überfluss bin ich leicht verkatert, da ich am Vorabend vorsorglich schon mal das Bezwingen der ersten Alpenpässe gefeiert habe, da die Gelegenheit gerade günstig erschien.

zugeschneite Wege: hier machen wir einen Schnitt von max. 10km/h
zugeschneite Wege: hier machen wir einen Schnitt von max. 10km/h

Bald lugt die Sonne zwischen den Wolken hervor und es folgen die ersten ernsthaften Steigungen. Dank Ulis akribischer Routenplanung bahnen wir uns auf geräumten Feldwegen und kleinen Nebenstraßen den Weg durch das hügelige Voralpenland.

der Hohenpeissenberg, einer der höchsten Berge im Voralpenland
der Hohenpeissenberg, einer der höchsten Berge im Voralpenland

In Steingaden hat erst das sechste Restaurant geöffnet und wir nutzen vor den Augen der völlig erstaunten Wirtin die Gelegenheit, unsere komplette Ausrüstung am Kachelofen aufzuwärmen. Nach der Mittagspause setzt heftiger Schneefall ein und die weiße Pracht bleibt nun auch auf den Straßen liegen. Mit jeder Schneeflocke verlagert sich der Schwerpunkt der Fragen von „Wo fahrt ihr hin?“ zu „Warum zum Teufel fahrt ihr bei diesem Wetter mit dem Fahrrad?“.

bestes Radfahrwetter....
bestes Radfahrwetter....

Wir werden von der herannahenden Dunkelheit überrascht und schon bald finden wir uns in einem kleinen Gästezimmer im Schatten von Schloss Neuschwanstein wieder. Zum Abendessen gibt es, der imposanten Kulisse angemessen, Mandarinen und Chips, dazu ein köstliches Glas Leitungswasser.

 

 

28. Januar: Halblech bei Füssen – Heiterwang

Strecke: 43 km

Min. Höhe: 791 m, Max. Höhe: 1025 m

Der nächste Tag begrüßt uns mit schneidender Kälte und fast postkartenblauen Himmel.

noch 13km nach Füssen
noch 13km nach Füssen
Asphalt !
Asphalt !

Wir schwingen uns in die Sättel, haken Schloss Neuschwanstein, das ich zuvor nur von Bildern kannte, per Fotosafari ab und erreichen Füssen, die letzte Stadt vor der Grenze.

Neuschwanstein mal nicht aus Postkartenperspektive
Neuschwanstein mal nicht aus Postkartenperspektive

In der Stadt selbst versuche ich langhaarige, einheimisch aussehende Menschen zu meiden, doch gehen diese zwischen den asiatischen Touristenhorden offensichtlich unter.

Füssen
Füssen
Stadtzentrum
Stadtzentrum
Richtung Österreich
Richtung Österreich

Ab Füssen reisen wir auf der Via Claudia Augusta, einer alten Römerstrasse, die von Donauwörth bis Verona führt. Rasch verengt sich das Tal und Zacken, Grate, Gipfel beherrschen die Szenerie. Gleichzeitig macht sich Abenteuerlust und Eroberungsgeist in mir breit.

unsere erste Grenze
unsere erste Grenze

Ich radle durch Österreich. Zusammengerechnet habe ich ungefähr ein Jahr meines Lebens in diesem Land verbracht, weil es das bevorzugte Reiseziel meiner Eltern gewesen war. Als Kind war Österreich für mich und meine beiden Geschwister eine ferne Welt, die man lediglich nach einer nicht enden wollenden Autofahrt, wo auch gerne mal das Autoquartett oder die TKKG Kassette quer durch das Auto flog, erreichen konnte. Jetzt sind wir aus Niedersachsen hierher geradelt – wenn man die Abkürzung von Göttingen bis Augsburg per Bahn mal großzügig ausklammert.

bei Reutte
bei Reutte

Reutte ist die erste Stadt hinter der Grenze und nun steht die Überquerung des ersten Alpenpasses an. Wir möchten den Fernpass auf dem Fahrradweg überqueren, der neben der Passtrasse entlangläuft.

bei Reutte
bei Reutte

Ein waghalsiges Unterfangen, wie sich bald herausstellt. Der erste Teil des Weges ist komplett zugeschneit, sodass wir auf die Straße ausweichen.

man beachte das Schild am linken Bildrand
man beachte das Schild am linken Bildrand

Später entdecken wir einen geräumten Wanderweg unweit der Straße und quälen uns die erste Anhöhe hinauf. Oben angelangt folgt das große Aufatmen: wir haben es geschafft und so schlimm war es dann doch nicht. Das letzte Stück ins Dorf Heiterwang legen wir bei einbrechender Dunkelheit mit zitternden Knien auf der vereisten Bundesstraße zurück.

Heiterwang, in der Nähe die Zugspitze
Heiterwang, in der Nähe die Zugspitze

Entsprechend erleichtert sind wir, als wir gleich im ersten Anlauf eine Bleibe für die Nacht finden. Es ist ein kleines, etwas angegrautes österreichisches Familienhotel mit diesem unverwechselbaren 80er Jahre Appeal: ein verwaister Partykeller, eine Tischtennisplatte, das in Messing  eingefasste Wandradio über dem Bett und ein Gericht auf der Karte. Apropos 80er Jahre: selbst die Internetverbindung, sichergestellt durch ein pluckerndes und piepsendes Analogmoden, erinnert an eine längst vergangene Zeit. „In diesen Hotels bin ich großgeworden“, sage ich ins ungläubige Gesicht von Minxin, während draußen Frau Holle einen Amoklauf startet.

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Kommentare: 1
  • #1

    zhangxiaoling (Sonntag, 22 März 2015 09:28)

    阿尔卑斯山又是坡又是雪,太难了,你们竟然也骑过去了,佩服