Nach drei Wochen im Iran gibt es mal wieder ein Lebenszeichen von uns. Was Internet angeht, ist im Iran vieles anders, daher ist unser neuester Reisebericht (noch) ein
Provisorium. Textlich bereits vollständig, werden wir in den nächsten Tagen noch einige Fotos hinzufügen, diese sortieren und um GPS Tracks und Streckeninfo ergänzen. Ansonsten gilt:
unser Bericht lügt nicht!
13. Mai: Göytäpä - Lenkaran (Aserbaidschan)
Als wir am Morgen uns von unseren Gastgebern verabschiedet haben, hält ein Radfahrer neben unserer Kneipe. Die Packtaschen und die Kleidung verraten ihn als einen von uns. „Wo kommst du her?“, frage ich auf Englisch. „Lettland. Und selbst? Deutschland?“ „Woher weißt du das? Aserbaidschanisches Regionalfernsehen geguckt?“ „Nein“, entgegnet der Lette und deutet auf meine Kleidung. Ich spüre, wie sich mein Gesicht mit einer grellen Röte überspannt. Jack Wolfskin, natürlich! Die standardisierte Einheitsuniform der deutschen Outdoorhorden!
„In unserer Stadt hat ein Jack Wolfskin Laden dichtgemacht. Wir konnten alles auf Rabatt kaufen“, bringen wir mechanisch zu unserer Verteidigung hervor. Wir hatten dieses Argument vorsorglich auswendig gelernt, um es im Ernstfall als Schutzmechanismus anwenden zu können. Und es ist noch nicht mal gelogen. Der Lette nickt, wir atmen auf. Alles nochmal gut gegangen. Ein weiteres Kennzeichnen deutscher Weltenbummler ist der gemeinhin professionelle Ausrüstungsstandard. Es müssen brandneue und selbstzusammengestellte Trekking Bikes sein, die man bestenfalls bereits selbst dreimal zusammen und auseinandergebaut hat, sodass man jede Schraube nachvollziehen kann. Dazu das neueste GPS und ein Smartphone mit Echtzeittrekking welches per App sofort den aktuellen Standort auf die Website überträgt.
Danis, Ivars und Laura hatten hingegen in den ersten 8 Monaten bereits mit einigen Widrigkeiten zu kämpfen. Auf der Krim verschwanden zwei ihrer drei Fahrräder, sodass man in Georgien sich drei Monate mit Gelegenheitsjobs durchschlug, um den Kauf zwei neuer Fahrräder finanzieren zu können. Die drei Toureros befinden sich gerade wieder auf dem Rückweg vom Iran Richtung Baku, da ihre turkmenischen Visa abgelehnt wurden. Nun möchten sie mit der Fähre über das Kaspische Meer übersetzen und es via Kasachstan probieren.
Ihr Ziel lautet, den von Lettland aus am weitesten entfernten bewohnten Ort der Erde zu erreichen. Dieser befindet sich auf einer kleinen Insel östlich von Neuseeland unweit der Datumsgrenze. Das Projekt ist sehr spannend und wir werden es in Zukunft regelmäßig verfolgen. Ihr könnt es ebenfalls auf der Seite www.hmroads.com auf Englisch tun.
Während wir unsere Erfahrungen austauschen, hat sich bald die gesamte Dorfbevölkerung Göytäpäs um unsere Fahrräder versammelt. Immer wieder schwingen Handys, an Selfie-Sticks befestigt, jubilierend über die diskutierende Menge hinweg und bei jedem Foto geht ein Raunen durchs Publikum. Man führt meist drei Gespräche gleichzeitig, und zwar mit aserbaidschanischen Schülern, die nach unserem Namen fragen, ihren Eltern, die uns auf eine Tasse Tee einladen wollen und mit dem Letten, der auf seine beiden Mitstreiter wartet.
Dann befinden wir uns wieder auf der Überlandstraße Richtung Lenkaran, der letzten großen Stadt vor der iranischen Grenze. Saftiges Gras, flache Landschaft, weidende Kühe und Backsteinhäuser – zählt man noch ein paar Windmühlen hinzu, wähnt man sich glatt in – Holland. Doch das sind noch nicht alle Gemeinsamkeiten. Seit Tagen leben wir wie viele Holländer unter Normalnull. Der Wasserspiegel des Kaspischen Meeres befindet sich 28 Meter unter dem Meeresboden. Mein GPS Gerät verharrt bei minus drei Metern, und wenn ich mich strecke, könnte ich mit der Fingerspitze die Wasseroberfläche der Ozeane erreichen.
20km vor Lenkaran stehen wir vor einer endlosen Schlange von Lkw. Es sind diese „besonderen Vorkommnisse“, die man als Radreisender alle paar Tage mal erlebt. Nachdem wir uns mit unseren Fahrrädern durch die Fahrzeugschluchten hindurchgewunden haben, stehen wir vor einer Brücke, in deren Mitte ein riesiges Loch klafft. Eine Planierraupe trampelt eine notdürftig improvisierte Trasse in das Flussbett. Pkw und wir dürfen durch. Handelt es sich um dieselbe kaputte Brücke, die wir bereits vor ein paar Tagen im Fernsehen sahen?
Trotz der obligatorischen Willkommensburg am Ortseingang ist Lenkaran die erste aserbaidschanische Stadt, die ihre russische bzw. sowjetische Vergangenheit nicht leugnet. Im Zentrum stehen alte Plattenbauten, die russische Backsteinarchitektur ist dagegen gut in Schuss. Wir möchten hier einen Tag Pause einlegen, und die letzten Vorbereitungen für den Iran treffen.
Am Abend laden uns hochrangige Generäle vom Nebentisch zum Essen ein. Es sind straffe Patrioten mit einer klaren Position zum Bergkarabach Konflikt. Der allgegenwärtige Präsident Elijev erfährt hohe Wertschätzung, obwohl wir anderswo hinter vorgehaltener Hand auch durchaus kritische Töne zu hören bekamen. Aber Gastfreundschaft ist ihnen wichtig und so geht das Essen inklusive Bier auf ihre Rechnung. Minxin muss sich um nichts kümmern und bekommt stets ohne Nachfrage Tee nachgeschenkt. Ich erweise mich als Partybremse, da ich es bei einer Runde Wodka belasse. Selbst die Erklärung, ich sei Sportler, lässt die drei Generäle an meiner Männlichkeit zweifeln.
Start in den Tag mit Ivars, Danis und aserbaidschanischer Dorfbevölkrung (l.o.); Fahrt durch Aserbaidschanisch-Holland (o.m.);
Ankunft in Lenkaran (u.r.)
14. -15. Mai: (unfreiwillig) in Lenkaran
Der Iran leidet in der westlichen Welt unter einem unverkennbaren Imageproblem. Oft wurden wir im Vorfeld der Reise nach den Ländern gefragt, die wir zu durchqueren beabsichtigen. Während Sollbruchstellen wie Albanien oder Turkmenistan problemlos durchgewunken wurden, ernteten wir beim Nennen des Landes „Iran“ ratloses Stirnrunzeln. Iran - muss das denn sein? Geht es nicht ungefährlicher? Selbst ich muss zugeben, dass mein Iran-Image im Wesentlichen durch westliche Medien geprägt wird. Finster dreinblickende Mullahs, Frauen tiefverhüllt im Tschador, allerlei Kriege und Konflikte mit Ländern nah und fern – solche Bilder dämmern in den meisten europäischen Hirnen herauf, wenn sie den Impuls „Iran“ erhalten. Im Alter von 14 Jahren fiel mir zudem das unsägliche Werk „Nicht ohne meine Tochter“ in die Hände. Obwohl ich damals den latent rassistischen Ton des Buches herauszulesen vermochte, prägen solche Erfahrungen.
(Rad)reisende, die dieses Land besucht haben, zeichnen ein anderes Bild und berichten von gastfreundschaftlichen Menschen, tollen Landschaften und einer guten Transportinfrastruktur. Wir sind neugierig und möchten das Land in Ost-West Richtung durchqueren. Es wird nach China unser längster Aufenthalt innerhalb eines Landes sein, das ungefähr fünf Mal so groß wie Deutschland ist. Von den insgesamt eingeplanten sechs Wochen werden wir zwei Wochen in Teheran damit beschäftigt sein, die letzten Visa einzusammeln und somit die letzten Lücken unserer Reiseroute zu schließen. Die restliche Zeit werden wir über serpentinenreiche Gebirgspässe und durch glühende Wüstengebiete radeln. Am Ende unseres Aufenthalts ist Ramadan, der - nicht überraschend - im Iran besonders streng befolgt wird.
Hinzu kommen die landesspezifischen Eigenheiten wie Kopftuchpflicht für Damen und absolutes Alkoholverbot. Weniger bekannt ist die Tatsache, dass es sich beim Iran um eine Cash – Only Economy handelt. Unsere EC- und Kreditkarten sind also absolut wertlos, abgesehen bei einer Handvoll Fünfsterne Hotels in Teheran. Das heißt nicht, dass die Iraner hinter dem Mond leben, auch dort gibt es bargeldlosen Zahlungsverkehr, doch kann dieser nur von einem iranischem Bankkonto zum anderen erfolgen. Das Bankensystem ist aufgrund des anhaltenden Wirtschaftsembargos eine Insel, die in sich vielleicht gut funktioniert, aber keine Kontakte nach draußen unterhält.
Das Beschaffen einer Unmenge von Bargeld für einen kaum überschaubaren Zeitraum steht heute an erster Stelle unserer Agenda. Aber unsere Pläne erhalten sofort einen Dämpfer. Durch ein unsinniges tägliches Kreditlimit meiner Hausbank können wir nicht genügend Bargeld aus dem Automaten ziehen und sind gezwungen, einen Tag länger in Lenkaran zu bleiben.
Erfolgreicher verläuft der Kleiderkauf. Eine Boutique entlang der Hauptstraße führt konservativ-islamische Kleidung und verpackt diese in schrille Farben. Im Iran ist neben einem Kopftuch der Heyab vorgeschrieben, ein Overall, der bis zu den Oberschenkeln reicht. Nach mehreren Versuchen steht unser Entschluss fest: ein hellblau-konservativer Heyab und ein wesentlich gewagterer Entwurf in beige-blauen Farben sollen es richten.
Den restlichen Teil des Tages verbringen wir mit Zeittotschlagen. Ein paar nette Aserbaidschaner lassen mich ans Steuer eines GAZ Wolga, einer russischen Repräsentationslimousine. Ich schließe die Türe mit einem blechernen „Plong“ und versinke augenblicklich in bequemen Schaumstoffsesseln, während mit einem asthmatischen Keuchen 131 wodkabetäubte Pferde zum Leben erwachen. Die Probefahrt endet allerdings bereits nach 20 Metern, da ich kaum in der Lage bin, das Dickschiff aus dem Parkplatz Richtung Straße zu manövrieren. Vielleicht habe ich auch versehentlich vergessen, die Handbremse zu lösen.
Am Nachmittag entdeckt uns ein lokaler Fernsehsender und bietet unser wieder ein Interview im TV an. Da wir die erste Sendung verpasst haben und es sonst nichts zu tun gibt, haben wir auch diesmal nichts dagegen. Das Kamerateam nimmt sich diesmal mehr Zeit für uns und dreht eine 10minütige Reportage , die ihr euch hier ansehen könnt. Mit Chingis, einem Mitarbeiter der TV-Crew gehen wir am Abend essen und lassen unseren Lenkaran Aufenthalt bei Bier am Kaspischen Meer ausklingen.
Gedenktafel zur Besetzung Bergkarabachs (o.m.), Minxin sprengt die Grenzen des islamischen Dresscodes (m.l.) und allerlei Fotos
vom Dreh für die Fernsehreportage
16. Mai: Lenkaran - Astara
Die letzten 40km bis zur iranischen Grenze sind zugleich die schwierigsten in Aserbaidschan. Seitdem wir durch Aserbaidschan reisen, behauptet das Quecksilber zwar tagsüber tapfer die 20 Grad Marke, und auch die Wolkendecke zeigt zunehmend mehr Lücken, extrem nervig bleibt dagegen der Gegenwind, der uns nun schon seit einer Woche ins Gesicht bläst.
Die Gegend hier im südlichsten Teil Aserbaidschans zeigt sich von einer ganz anderen Seite und erinnert an Batumi, unseren Ausgangspunkt des Kaukasus Trips. Ähnlich wie an der feuchten Schwarzmeerküste wird hier Tee angebaut, die Händler entlang der Straße verkaufen Kiwi aus eigenem Anbau, in einigen Gärten entdecken wir sogar Bananenstauden.
Unsere letzte aserbaidschanische Nacht verbringen wir im Grenzort Astara, wo zufällig auch Chingis aufschlägt, der Videomaterial von hier zurück nach Lenkaran bringen muss. Mit Chingis trinken wir das letzte Bier für womöglich lange Zeit in einem Gartenrestaurant. Es ist Samstagabend in einem landesweit bekannten Seebad, doch selbst auf der angrenzenden Strandpromenade verliert sich keine Menschenseele. Lediglich ein kleiner Junge, der auf einem Dreirad in der Fußgängerzone seine Runden dreht, sorgt für akustische Unterhaltung.
Um 23:00 Uhr heißt es dann Abschied nehmen von Chingis. Aserbaidschan ist uns trotz zeitweiliger Durststrecken am Ende regelrecht ans Herz gewachsen. Denn der unfreiwillig lange Aufenthalt in Lenkaran hatte auch Vorteile. Nirgendwo kamen wir Land und Leuten so nah wie hier.
Entlang des Kaspischen Meeres nach Süden; eine Familie gewährte uns Asyl und ließ uns "unsere" TV-Reportage gucken (m.l.);
Abschiedsfoto mit Chingiz (u.r.)
17. Mai: Astara (aserbaidschanische Seite) - Astara (iranische Seite)
Den Aserbaidschanaufenthalt beschließen wir endgültig mit einem Besuch der brennenden Wasserquelle Yamag Bulag. Die groß angepriesene Touristenattraktion erweist sich auf den ersten Blick als Enttäuschung – eine unscheinbare Wasserquelle in Beton eingefasst – bis jemand ein Feuerzeug darüber hält und das Wasser Feuer fängt. Verantwortlich hierfür ist Methangas, das mit dem Wasser zusammen an die Erdoberfläche strömt.
Nach der Mittagspause radeln wir etwas planlos Richtung Grenze und erreichen bald einen Markt. Mein GPS verweist auf eine große Straße südlich unseres Gassengewirrs, die sich hinter einer massiven Metalltür versteckt. Dort müssen wir durch! Doch einige muskelbepackte Hünen hindern uns am Überwinden dieser natürlichen Barriere. Wir blicken um die Ecke und stellen fest, dass die auf dem GPS gesichtete Straße bereits zum Iran gehört und wir die Grenze erreicht haben. Ein riesiges Eisengitter mit winziger Toröffnung führt zum aserbaidschanischen Zoll. Wir knüllen unsere Fahrräder zusammen, stecken sie in den winzigen Schlitz namens Toröffnung und werfen sie auf die andere Seite in einen langen engen Korridor. Misstrauisch blickt der Zöllner auf die Fotos meines Reisepasses, das aserbaidschanische Visum und mein Gesicht. Habe ich mich optisch in den letzten 5 Monaten derartig verändert?
IRAN
Keine Ahnung, Minxin hingegen gelingt in 5 Minuten eine Verwandlung von einer gewöhnlichen Fahrradtouristin zur heyabbewehrten Iranerin. Noch wirkt das optisch nicht so gekonnt wie bei den meisten iranischen Frauen, so hängt das Kopftuch lose wie ein Pony die Stirn runter, und schafft optische Ähnlichkeit mit der Dschidschascha von saudischen Scheichs. Dennoch sind die Minimalanforderungen an den iranischen Dresscode nun erfüllt und - wer weiß - vielleicht wird Minxin im Iran mit ihrem maskulin-saudischen Dress neue Kleidungstrends setzen.
Die Einreise auf iranischer Seite ist erwartungsgemäß die bis dato langwierigste. Zunächst führt man uns in einen separaten Raum, die Fahrräder müssen wir zurücklassen. Es folgen die üblichen Fragen. Wo wir hinreisen wollen, ob wir verheiratet wären und was wir so arbeiten würden. Worum es wirklich geht, können wir nur erahnen. Prüft man, ob unsere Angaben mit dem Antragsformular aus Trabzon übereinstimmen? Oder ist es lediglich ein standardisierter Fragekanon, den man für Einreisende aus Drittstaaten runterleiert? Wir sind vorgewarnt. Unsere Route liegt fernab der Gefahrengebiete im Südosten des Irans, als Jobs antworten wir unverfänglich mit „Business“, was auch immer das sein mag. Als Backup haben wir noch Arbeitszeugnisses und Kopien unserer Heiratsurkunde dabei. Doch diese wollen die Grenzbeamten nicht sehen. „Welcome to Iran“, heißt es stattdessen.
Es ist immer etwas Besonderes, mit dem Fahrrad in ein neues Land einzureisen. Das war sogar schon mit Deutschland – Österreich so und ist im Iran auch nicht anders. Meistens bemerkt man schon nach den ersten Metern die ersten Veränderungen, selbst wenn es nur die Nummernschilder sind. Wir bleiben hinter dem Zoll stehen und schauen uns um. Doch Zeit zum Nachdenken bleibt nicht, denn sofort sind mehrere Männer zur Stelle, die uns eine Wechselstube führen. Wir tauschen unsere restlichen aserbaidschanischen Manat um und lassen die Dollar sehr zum Verdruss der Männer unangetastet. Sie würden sich gerne über etwas mehr harte Währung freuen. Wir halten unsere US – Dollar zunächst als Reserve, da der Kurs bereits heute etwas besser ist als gestern per Smartphone recherchiert. Und er wird weiter steigen, denn aufgrund des Wirtschaftsembargos leidet der Iran seit mehreren Jahren unter einer Hyperinflation. Nachdem wir in der Türkei und Georgien die Währung bequem durch 2 bzw. 2,5 teilen konnten, ist der Iran das erste Land, indem wir Millionenbeträge für Hotelzimmer zahlen – 1.000.000 Rial entsprechen 30 Dollar.
Wir halten wenige km hinter der Grenze an einem Fast Food Restaurant. Dessen Speiseauswahl passt nach der zweiwöchigen aserbaidschanischen Schaschlik – Monokultur perfekt in unser Jagdschema. Wir sind die einzigen Gäste in dem Restaurant. Schweißperlen rinnen an Minxins Gesicht hinunter, das Tragen eines schwarzen Kopftuchs fordert eine gewisse Eingewöhnung. „Can I take this off?“, fragt Minxin den Restaurantbesitzer und deutet auf ihre Stirn. „Nein“, donner ich dazwischen, bevor der Herr antworten kann.
Ich bzw. wir befinden uns seit einer halben Stunde in diesem Land und fühlen uns unsicher. Frauen ohne Kopftuch im Iran sind in der Öffentlichkeit undenkbar. Was ist, wenn auf einmal Religionswächter das Restaurant stürmen? Oder falls Kameras Minxins „nackten Kopf“ filmen? Kommt es öfters vor, dass Frauen in einem Restaurant ihre Frisur offen zur Schau tragen? Und wie steht der Mann zu den Kleidervorschriften? Noch ist der Iran für uns ein fremder Planet und es dürfte einige Zeit dauern, bis wir seinen Code geknackt haben. Immerhin lernen wir bereits wenig später, dass unsere Sorgen unbegründet, fast paranoid, sind. „No problem“, antwortet der Mann hingegen ungerührt und macht eine ermunternde Handbewegung in Minxins Richtung.
Wir beziehen ein Zimmer in einem Hotel am Stadtrand Astaras. Bis zu 8 Personen finden in einem einzigen Hotelzimmer Platz. Offensichtlich ist diese Form der Beherbergung auf Großfamilien ausgerichtet.
Etwas schockiert stellen wir fest, dass das Preisniveau im Iran mindesten dem aserbaidschanischen entspricht. Das Fried Chicken in dem Restaurant hat uns 14 Euro gekostet, für das Hotelzimmer fallen 30 Euro an. Sollte es so weiter gehen, könnte es mit dem Geld am Ende knapp werden. Zwar dokumentieren wir seit Beginn der Reise penibel unsere Ausgaben, im Iran müssen wir uns aber zum ersten Mal wirklich in Verzicht üben.
Der freundliche Hotelbesitzer schenkt uns eine Wassermelone. Ich aktiviere die WiFi- Verbindung auf meinem Laptop und rufe in etwas naiver Neugierde Facebook auf. Nach kurzer Zeit erscheint nicht das vertraute blau weiße Layout, sondern eine kryptische Website mit vielen bunten Farben. Denkt man sich noch ein paar Fotos dazu, wäre das eine prima e-commerce Website. Auf youtube dasselbe Bild. Selbst die Seite der Süddeutschen Zeitung oder das Hamburger Abendblatt kann ich nicht hochladen.
erste Eindrücke: eine Kungfu Lehrerin weist Minxin den Weg; Melonenverkauf; buntes Treiben auf dem Basar von Bandar e Anzari
(v.l.n.r.)
18. - 26. Mai: Astara - Teheran
Es geht nach Süden, an der Küste des Kaspischen Meeres entlang. Die Gegend hier wird intensiv für Reisanbau genutzt. Mit den von subtropischen Regenwald bestandenen Bergen im Hintergrund erinnert die Landschaft ein wenig an Südchina oder gar Thailand.
Nach einer kurzen Eingewöhnungszeit gefällt es uns im Iran. Glichen die aserbaidschanischen Orte geradezu Geisterstädten, so schwelgen die iranischen Siedlungen in bunten Farben. Meist markiert ein mit Flaggen behängter Kreisel die Stadtmitte. Dort ist die Bebauung geschlossen und mehrstöckig, die abzweigenden Alleen spenden Schatten in der sengenden Mittagssonne und in den engen Gassen versteckt sich oft ein quirliger Basar nebst einer farbenfrohen Moschee. Überall ist etwas los, überall passiert etwas. Es scheint, als wären wir nun endgültig in Asien angekommen.
Obwohl die „Hallozinationsrate“ (prozentualer Anteil an Menschen, die uns vom Straßenrand begrüßen) leicht unter der aserbaidschanischen liegt, ist der Empfang stets herzlich: „Hello my friends? Where do you come from? Welcome in my city“, diese oder ähnliche Sätze vernehmen wir jeden Tag mehrere Hundert Mal. Das mag auf Dauer ein wenig ermüdend sein, doch gehören diese stets gutgemeinten Sätze zur Flatrate eines jeden Iranurlaubers. Oft stoppen die Autos auch und ihre Insassen beschenken und mit Keksen, Nüssen oder Wasser. Dann werden die üblichen Infos ausgetauscht, wobei Minxin die besseren Karten hat. Dem gemeinen Iraner fällt meistens der Name „Jackie Chan“ ein, wenn er auf eine Chinesin trifft, während ein in Österreich geborener Bildermaler mit anschließender zweifelhafter Politkarriere noch immer Deutschland zu verkörpern scheint. Diese Ansichten entspringen jedoch nie menschenverachtenden Gedankengutes, sondern eher politischem Halbwissen.
Am dritten Irantag beschließen wir bereits am Nachmittag das Fahrradfahren zu beenden, und sehen uns in der Hafenstadt Bandar Anzari um. Die Hauptstraße säumen zahlreiche Geschäfte, welche unterschiedlichste Waren anbieten. Der Duft von frisch gebackenen Brot, Knoblauch und gebratenem Fleisch steigt uns in die Nase. Die Frauen tragen allesamt den Heyab, interpretieren die Kleidungsvorschrift jedoch auf sehr unterschiedliche Art und Weise.
Einige von ihnen haben das Kopftuch soweit nach hinten geschoben, sodass man es erst im Vorbeilaufen bemerkt. Somit ist der eigentliche Zweck des Heyab, die Frisur der Frau zu verdecken ad absurdum geführt. Doch auch Taillengürtel, dick aufgetragenes Makeup und verwaschene Jeans unter dem Heyab verkörpern weitere kleine Revolutionen gegenüber dem strengen Dresscode.
Campen im Garten einer iranischen Familie (o.m.); Streifzug durch Bandar e Anzari (unten): interessant der Inhalts des Plakats
shinter Minxin (u.m.)
Kurzum, ich hatte mir den Iran anders vorgestellt, mit hässlichen Betonbauten und etwas schwermütigen und eingeschüchterten Menschen. Doch, da schau her – es ist ja nicht nur „interessant“, „fremdartig“ und „anders“ hier. Der Iran macht regelrecht Spaß! Jeden Morgen wachen wir mit einem Grinsen auf unseren Lippen auf und freuen uns über den nächsten Radeltag. Dabei spielt das Wetter nicht unbedingt immer mit und die Landschaft am Kaspischen Meer ist nichts Besonderes. Aber was solls. Man muss nicht in guten Restaurants essen oder spektakuläre Sehenswürdigkeiten besichtigen, um sich hier wohlzufühlen. Der Iran kommt zu dir!
Bereits am zweiten Abend werden wir Zeuge der legendären iranischen Gastfreundlichkeit. Eine Familie lädt uns zu sich nach Hause ein. Auf dem riesigen Grundstück stehen gleich drei Gebäude. Neben dem Haus der Eltern hat die verheiratete Tochter ihre Wohnung gesetzt, das Eigenheim des verlobten Sohns befindet sich noch im Rohbau. Und für den noch jungen Sohn ist bestimmt auch noch Platz. Die verbliebene Freifläche okkupieren wir sehr zur Überraschung der Familie mit unserem Zelt. Möchten wir als westliche Touristen denn wirklich auf den Komfort einer überdachten Unterkunft verzichten?
Mit den drei Autos scheint die Familie eher zu den Privilegierten im Iran zu gehören. Das große Wohnzimmer der Tochter-Wohnung ist mit Teppichen ausgelegt, an der Wand hängen diverse Familienportraits. „Du kannst das ausziehen“, ist der erste Satz der Tochter, als Minxin die Wohnung betritt. Natürlich geht es um das Kopftuch. „Gnädigerweise müssen wir es zumindest zuhause nicht tragen“, sagt sie und zieht eine angewiderte Grimasse. Es wird Tee und Falafel serviert. Die Kinder sprechen gutes Englisch, obwohl noch niemand von ihnen im Ausland war. Später lädt der Sohn mich auf eine Runde FIFA Soccer auf der X Box ein. Ich habe das Spiel noch nicht gespielt und liege postwendend bereits in der Anfangsphase 0:3 hinten. Am Ende kann ich das Match aber noch sensationell auf 4:3 umbiegen, weil der Joystick meines Gegners streikt.
nochmal ein Foto von unserer Übernachtung im Garten der Familie (r.)
Natürlich läuft nicht jeder Abend nach Plan. Zwei Tage später tauschen wir in der Sommerfrische Ramsar in einem etwas abgewohnten Fünfsternehotel Geld. Hübsch ist es hier in den subtropischen Vorbergen südlich des Kaspischen Meeres. Neben dem Luxushotel mit seiner bröckelnden Fassade gibt es noch preiswertere Übernachtungsmöglichkeiten, sogar eine Art Zeltplatz steht für Urlauber bereit. Nach einigem Hin und Her entschieden wir uns weiterzufahren, damit die morgige Etappe nicht zu lange gerät. Es erweist sich als die bislang größte Fehlentscheidung unserer Reise. Die ersten beiden Familien, die wir nach Zeltmöglichkeiten fragen, erteilen uns eine freundliche Abfuhr. Das gleiche Elend in den Hotels. Das erste ist völlig überteuert, das zweite voll und das dritte wiederum geschlossen. Möglichkeiten zum Wildcampen gibt es entlang der zersiedelten Kaspischen Küstenebene ebenso wenig. Wir sind ratlos. Und stocksauer. Bereits in der Dunkelheit erreichen wir Tonekambun und finden dort nach langem Suchen mit tatkräftiger Unterstützung der Einheimischen in einer winzigen Seitenstraße an der Peripherie schließlich eine ansprechende Unterkunft. Es ist 22:30 Uhr als wir unsere Packtaschen ins Zimmer getragen haben.
verwaister Strand bei Rud Sar am Kaspischen Meer; Paar aus Teheran; der Iran ist farbenfroher als man denkt: Vergnügungspark in
Ramsar (v.l.n.r.)
Das Abendessen nehmen wir nebenan bei einem McDonalds Klon ein. Der Iran ist das einzige Land weltweit, indem sich die amerikanische Burgerbraterei auf Anordnung der Regierung zurückziehen musste. Nun wetteifern mehrere iranische Fastfoodketten um die beste Kopie. „It’s fake“ versichert mir als Bestätigung die Servicekraft hinter der Theke, als ich etwas belustigt auf die roten Pizzapackungen mit dem goldenen M schaue. „Yes, of course“, fällt mir dazu ein. Was soll ich auch sagen?
it's fake, it's fake, baby!; das Eis war dafür umso leckerer; Gruppenfoto nach gerade überstandener Fahrradreparatur in Chalus
(v.l.n.r.)
Der nächste Tag verläuft wieder erfolgreicher. Es ist unser dritter Hochzeitstag und wir wollen uns heute den Luxus eines Strandhotels mit Pool gönnen. Doch dann stoppt ein weißer Nissan SUV neben uns auf der Straße. Ali, ungefähr in unserem Alter, lädt uns zu sich nach Hause ein. Als wir unsere Fahrräder in seine Einfahrt verschieben, verlassen wir den offiziellen Iran und können einen Blick hinter die Fassade werfen. Ali ist Landschaftsgärtner, sein stolzes Anwesen umfasst mehrere Hektar Land und einige Gewächshäuser. Die Eltern kommen erst morgen nach Hause, solange ist sein gleichnamiger Freund zu Besuch.
Wenig später – ich stehe gerade halbnackt in einem bitterkalten Pool - biegen die Nachbarn um die Ecke, um auf ein paar Bier vorbeizuschauen. Ich werde freundlich begrüßt als sie mich bemerken. „Fast alle Menschen hier trinken Alkohol“, erklärt Ali. „Aber wird das nicht mit hohen Strafen geahndet“, fragen wir. „Nicht mehr. Das war vor 10 Jahren noch anders. Wir sind nicht so konservativ wie beispielsweise die Türken. Wir feiern gerne“.
Ali steht auf traditionelle iranische Musik, sein Freund, ein „unterbeschäftigter“ Graphikdesigner hingegen kann kaum etwas mit islamischer Kultur anfangen. Im Hintergrund läuft psychedelische Musik. „Velvet Underground? Jefferson Airplane?“, möchte ich wissen. „Nein, das ist eine iranische Band. Wie alles außer Marschmusik ist auch das offiziell verboten. Doch kein Schwein schert sich mehr drum.“
bei Ali im Garten, weitab von jeglicher staatlicher Strenge; Schuhverkaufsstrecke bei Ramsar; und wieder nix
(v.l.n.r.)
Etwas übernächtigt quälen wir uns aus dem Kingsizebed, das in Alis Gästezimmer untergebracht ist. Der gestrige Abend liegt wie eine alkoholgeschwängerte Fata Morgana hinter uns. Wir haben einen komplett anderen Iran kennengelernt, als die zahlreichen, religiös motivierten Plakate es uns am Straßenrand glaubhaft machen wollen. Doch wie passt das zusammen? Die Regierung und ihre Menschen scheinen auf zwei verschiedenen Planeten zu leben und keine Berührungspunkte zu haben.
Der Abschied mit den Alis gerät ausschweifend, da noch Abschiedsfotos in allen denkbaren Kombinationen gemacht werden müssen. Erst Ali, Ali und Minxin auf einem Bild, dann Ali, Ali und Flo, als nächstes Ali und Minxin, gefolgt von Ali und Flo, schließlich Minxin alleine, dann Ali alleine, wiederum Ali alleine, etc. , bis der Speicherplatz meiner Kamera voll ist.
Nun wird es ernst. Wir sind noch 15km von der Straßenkreuzung entfernt, die auf den 2600 Meter hohen Kandovan Pass führt. In den kommenden Tagen müssen wir quasi von Sylt auf Deutschlands zweithöchsten Berg, den Watzmann, radeln. Die Tatsache, dass das Kaspische Meer frecherweise 26 Meter unterhalb des Meeresspiegels liegt, macht es nicht einfacher. Eine solche Steigung haben wir bislang nicht absolviert, in Georgien kamen wir auf ungefähr die Hälfte, bis ein Wintereinbruch uns stoppte. Wir beschließen, die Herausforderung gelassen zu nehmen, und das zu fahren, was wir können.
Betriebsausflug iranischer Krankenschwestern (l.); die Hildesheimer Allgemeine Zeitung hilft, unser Anliege zu erklären
(r.)
-20 Meter über NN: es geht los. Die einspurige Straße zwängt sich durch ein tiefes, grünes Tal und ist stark befahren. Wohlhabende Teheraner sind auf der Rückreise von ihrer Strandvilla am Kaspischen Meer in die iranische Hauptstadt.
100 Meter über NN: ein Mann schenkt uns kaltes Quellwasser und verwickelt uns in ein längeres Gespräch. Das ist nett, kostet aber Zeit. Wir müssen die Balance zwischen Freundlichkeit und unseren (hüstel) ambitionierten, sportlichen Zielen finden.
300 Meter über NN: ein freundlicher Autofahrer hält und empfiehlt uns, auf die Autobahn auszuweichen, die sich neben uns gerade im Bau befindet. Es ist geradezu eine Verlockung, sich den endlosen Blechkarawanen zu entziehen und auf einer leeren Autobahn zu radeln. Eine Abzweigung erreichen wir aber erst bei 430 Metern über NN. Und nach einem km ist es mit der Herrlichkeit bereits wieder vorbei. Die Berge rücken zusammen und die Autobahntrasse mündet kleinlaut in die stark befahrene Passstraße ein.
500 Meter über NN. Wir legen eine Rast in Mazanabad, dem einzigen erwähnenswerten Ort bis zur Passhöhe, ein.
up the Kandovan: 100m ,400m, 500m (v.l.n.r.)
700 Meter über NN. Wir finden einen Zeltplatz unweit der Straße auf einem verlassenen Grundstück, das von einem Afghanen mit Cowboyhut made in Marlboro Country „bewacht“ wird. Ich kann nicht ganz nachvollziehen, wo wir uns hier befinden, der Grundstückskontrolleur verlangt jedenfalls 8 Euro Campinggebühr für das Aufstellen unseres Zelts. Kaum haben wir den Preis runtergehandelt, stellen wir fest, dass der Boden hier steinhart ist. Wir haben Probleme, die Haken in die Erde zu rammen. Der afghanische Marlboro Man kehrt zurück und führt uns in einen kleinen Schuppen, wo ein Doppelbett steht. Kein Luxus, aber immerhin zweckdienlich. Also Zeltutensilien rein, Fahrräder und Gepäck in den Schuppen und fertig ist unser nächtliches Quartier, das wir zu unserer Überraschung mit zwei weiteren Bewohnern teilen müssen. Zugegeben, die zwei Spinnen an der Wand waren vor uns da und verfügen somit sicherlich über gewisse Privilegien hinsichtlich Nutzung des Wohnraums. Wir schlüpfen in die Rolle von linken Hausbesetzern und befördern die beiden Spinnen unter Missachtung aller herkömmlichen Werte und Normen an die freie Luft. Selbiges gilt für das Unkraut, das die Eingangstür zu überwuchern droht. Nach der Jagdsafari und Abholzaktion dürfte unser Planet zwar aus dem ökologischen Gleichgewicht kippen, dafür haben wir jetzt ein Dach über dem Kopf und sind ungestört.
Zumindest bis nach wenigen Minuten der Afghane erscheint und uns Handtücher bringt. Wir nehmen sie dankbar an. Kurze Zeit später ist Marlboro Man wieder zur Stelle und reicht uns einen Brotfladen. Wieder später, wird uns ein Heizkörper in die Wohnung gestellt, die mittlerweile eine Metamorphose vom Geräteschuppen zum ***Hotel zu durchlaufen scheint. Erst bei Minxins Nachfrage nach einer funktionierenden WiFi Verbindung ist das Ende der Fahnenstange erreicht.
Doch immerhin können wir eine angeregte nonverbale Diskussion mit unserem afghanischen Facility Manager führen. Wir erfahren, dass er aus der westafghanischen Stadt Herat kommt und dass sich seine Familie mittlerweile im Iran befindet. Zwei Millionen Afghanen sind wegen Krieg und Armut aus dem östlichen Nachbarland in den Iran geflohen. Der Wächter über unser etwa 10qm großes Reich kann sich zumindest mit einem bescheidenen Einkommen über Wasser halten. Und trotzdem überkommt ein schlechtes Gewissen. Wir würden ihm gerne etwas schenken, aber unsere knapp bemessene Ausrüstung gibt außer etwas Essen nicht viel her. Am nächsten Morgen strahlt Marlboro Man immerhin über das ganze Gesicht, als er uns aus der Hütte kommen sieht.
unser Domizil für die erste Nacht, bewacht vom afghanischen Zeltplatzwächter (l.)
1000 Meter über NN. Ein prächtiger Tag bricht an. Die Straße wurde tollkühn in die Felsen gesprengt und windet sich durch eine dramatische Schlucht. Gesteinskathedralen von mehreren Hundert Metern Höhe ragen über unseren Köpfen empor, das Sonnenlicht erreicht kaum die Erde.
1300 Meter über NN. Mittagspause. Von der Terrasse unseres Restaurants mit dem furchteinflößenden Namen „100 Serpentinen“ recken wir unsere Hälse nach oben und blicken auf die bizarren Felsspitzen beiderseits der Straße. Weit oben entdecken wir einen LkW. Genau dort geht es hin.
1500 Meter über NN. Ich möchte nicht (schon wieder) mit Superlativen und blumigen Beschreibungen um mich werfen. Aber die Landschaft hier im Kandovan Tal ist an Dramatik kaum zu überbieten. Der subtropische Garten Eden liegt nun hinter uns, die Berge ragen hier bis auf 4000 Meter empor und sind Ende Mai noch schneebedeckt. Wir können uns ob dieser Schönheit kaum sattsehen und vergessen dabei fast, dass wir heute die wohl härteste Tagesetappe unserer Reise absolvieren.
1600 Meter über NN: nach ein paar dunklen und feuchten Tunnel überraschen uns drei polnische Radfahrer, die gerade von Tehran nach Tbilissi unterwegs sind. Auf ihrer Website www.dreamtrip.pl könnt ihr mehr über sie und ihre Reisen erfahren.
1800 Meter über NN: St. Pauli startet in sein letztes Saisonspiel. Noch ist der Klassenerhalt nicht in trockenen Tüchern, es geht um die Existenz beim schweren Auswärtsspiel in Darmstadt.
2000 Meter über NN. Minxins Kräfte schwinden allmählich, unsere Pausen werden länger und häufiger. Noch sind es 600 Meter zur Passhöhe, die wir morgen Mittag erreichen wollen. Wir beschließen dennoch, uns nach einem Nachtlager umzusehen. St. Pauli hält das 0:0.
2100 Meter über NN. Die steilen Berghänge sind für jegliche Campingambitionen ungeeignet. Wir fragen einen Restaurantbesitzer ob wir auf seinem Grundstück (gegen eine geringe Gebühr) unser Zelt aufbauen können und erhalten prompt eine Absage. Minxin tut mir leid und ich kann ihr nicht wirklich helfen. Müssen wir eigentlich immer auf solche Vollpfosten treffen, wenn es wichtig wird?
polnische Radlerkollegen (m.); Kratzen an der 2000 Meter Marke (r.)
2150 Meter über NN. Ein weiterer Canyon. Das Netz hält und ich erfahre, dass alle Teams für St. Pauli spielen. Sauber.
2250 Meter über NN. Ich radel voraus und entdecke ein weiteres, diesmal verlassenes Restaurant. Wieder ist der Wächter über die Ruinen ein Afghane. Scheint eine sinnvolle iranische ABM zu sein. Der Afghane, diesmal ohne Cowboyhut willigt zwar auf mein Deal „Zelten gegen Entgelt“ ein, scheint aber davon nicht sehr überzeugt zu sein. Woran liegts? Will er uns lieber loswerden? Viel schlimmer noch: auf einmal treffen alle Abstiegskandidaten von St. Pauli ins Netz, die Schlinge zieht sich wieder zu. - Am Ende erfahren wir, dass es ein paar Hundert Meter entfernt bessere Möglichkeiten für eine nächtliche Bleibe geben soll.
Tausend Dank und fetten Respekt an den Roten Halbmond (r.)
2300 Meter über NN. Tatsächlich: hinter einer Kurve entdecke ich an einer Kreuzung mehrere Kantinen und Shops, dahinter reckt eine Moschee ihre Minarette in die iranische Bergwelt. Na, immerhin etwas. Laut unserem Reiseführer soll man im Iran problemlos neben Moscheen zelten können. Doch es kommt noch besser, denn Glücksgöttin Fortuna scheint nun ihr ganzes Füllhorn über uns leeren zu wollen. Ein jüngerer Herr mit adretter Kurzhaarfrisur führt uns zu einem Gebäude des Roten Halbmonds. „Tschador?“ (Zelten?), fragen wir erwartungsfroh. „Hotel Tschador?“, grinst der Mann vom Roten Halbmond. „No. For you Mini Hotel“, sagt er nach einer kleinen Kunstpause und deutet auf das Obergeschoß des Gebäudes. Wir kommen in einem Gästezimmer des Roten Halbmonds unter, das uns nach 1560 Metern Anstieg mit seiner warmen Dusche uns wie ein Schlaraffenland vorkommt. Ich greife unsere Taschen, haste über den Flur ins Zimmer und aktiviere mein Smartphone. Am Ende hat nur ein einziges Tor gefehlt, um St. Pauli in die Drittklassigkeit zu befördern. Tiefes Durchatmen: die Saison ist vorbei, und St. Pauli bleibt zweitklassig, obwohl es noch vor wenigen Wochen absolut nicht danach aussah. Und falls dich, liebe® Leser(in) des Blogs diese permanenten Fußballexkurse, langsam nerven, so sei dir gesagt: bis mindestens August hast du jetzt deine Ruhe davon. An dieser Stelle auch nochmal ein Dankeschön an die beste (und vor allem geduldigste) Ehefrau von allen.
Verabschiedung vom Roten Halbmond und weiter nach oben, dem Kandovan Pass entgegen (v.l.n.r.)
2300 Meter über NN. Bei wolkenlosen Himmel starten wir in einen Tag voller Verheißung. Nur noch 300 Meter trennen uns von der Passhöhe. Dahinter liegen die hitzeflirrenden Wüsten Persiens. Nur 60km Luftlinie entfernt die 15 Millionen Einwohner Metropole Teheran, die wir bis morgen Abend erreichen wollen. Es scheint, als ginge unser Abenteuer jetzt erst richtig los.
2400 Meter über NN. Prompt folgt die Ernüchterung: mal wieder starker Gegenwind. Kann das nicht einfach mal ein Ende haben? Mann, mann, mann. Unsere Durchschnittsgeschwindigkeit reduziert sich auf 5 km/h
erneut Gegenwind; Tunnelblockade; kein Grund zum Feiern, noch 100 Höhenmeter zum Paß (v.l.n.r.)
2640 Meter über NN: wir stehen am 2km langen Tunnel des Kandovan- Passes, dahinter geht es in steilen Serpentinen 1500 Meter nach unten. Bereits nach wenigen Metern spricht uns ein Mann von einer Baubrigade auf Englisch an. Die folgende Konversation verläuft im Wortlaut ungefähr so:
„Tunnel ist gesperrt“
„Dann macht ihn doch auf“
„Nein, er wird erst um 20 Uhr wieder geöffnet“
„Warum darf nur der Gegenverkehr durch und wir nicht?“
„Wir reparieren hier etwas. Ihr dürft ja ab 20 Uhr durchfahren“
„Wir wollen aber jetzt“
„Das geht nicht“
„Sperrt den Tunnel doch jetzt für den Gegenverkehr.“
„Nur wegen zwei Fahrradfahrern?“
„Wir sind doch keine Unmenschen. Lasst die Autofahrer mit uns zusammen durch“
„Das geht nicht“
„Sperrt den Tunnel für den Gegenverkehr nur für 20 Minuten. Das reicht uns vollkommen“
„Die Strecke hinter dem Tunnel ist sehr abschüssig. Dort dürfen sich keine Autos stauen.“
„Hier ist es doch auch steil.“
„Aber nicht so wie dort drüben“.
„Doch.“
„Ihr wart sicherlich noch nie im Iran. Woher wollt ihr wissen, wie steil das dort drüben ist?“
„Ist bestimmt nicht so steil wie hier. Teheran liegt ja auf immerhin 1200 Metern, wir kommen aber vom Kaspischen Meer.“
„Langsam nervt ihr“
„Macht den Tunnel meinetwegen nur für 10 Minuten auf“.
„Nein“
„Dann halt fünf Minuten, wir ziehen auch Warnwesten an versprochen“
„Nein“
„3 Minuten. Und unsere schönen Warnwesten!“
„Nein“
„Dann halt nur den rechten Seitenstreifen für uns. Plus Warnwesten. Und Stirnlampen haben wir auch noch dabei“.
„Verdammt nochmal: NEIN!“.
„Letztes Wort?“
„Letztes Wort“
Was nun? In unserem Ärger haben wir eine kleine Abzweigung übersehen, die bis zum Bau des Tunnels zum Überqueren des Passes genutzt wurde.
Ganz oben und vielleicht ein kleiner Vorgeschmack auf den Pamir: der Kandovan Pass auf 2960 Metern Höhe
2750 Meter über NN. Der Verkehr auf der Gebirgsstraße reißt abrupt ab. Minxin nimmt den Feldstecher und deutet auf den Tunnel. Der Verkehr verläuft wieder reibungslos in beide Richtungen. Offensichtlich hat sich die Reparatur als weniger aufwändig erwiesen, als anfangs befürchtet. Halleluja! Egal, wir machen jetzt hier weiter.
2800 Meter über NN. Mit einem Stundenschnitt von etwa 6km/h quälen wir uns an duftenden Bergwiesen der Passhöhe entgegen. Selbst im iranischen Hochgebirge hält der Frühling nun unverkennbar Einzug. Ein paar teergeschwärzte Schneewechten am Straßenrand sind die letzten Zeugen des Winters.
2963 Meter über NN. Als mein GPS 2963 Meter anzeigt verflacht die Straße und führt auf ein kleines Plateau. Es ist geschafft! Ein paar Erinnerungsfotos, ein müdes Abklatschen, das muss reichen. Von wegen Watzmann! Aufgrund des Tunnels befinden wir uns auf der exakten Höhenlage der Zugspitze, Deutschlands höchstem Berg. Vom Grund der Nordsee zur Zugspitze in 50 Stunden mit dem Fahrrad, gleichbedeutend mit der Reifeprüfung zum Überqueren des Pamirs - ich denke, wir können mit uns zufrieden sein
Erinnerungsfoto unweit der Paßhöhe; Blick nach Süden; es wird trockener und heißer (v.l.n.r.)
2800 Meter über NN. Das eindrucksvolle Gebirgspanorama zwingt uns zu zahlreichen Fotostopps. Danach folgt nach 18 Tage erste längere Bergabfahrt.
2300 Meter über NN. Noch 110 km bis Tehran. Die Landschaft südlich des Passes ist wesentlich trockener, aber nicht weniger spektakulär.
1900 Meter über NN. Ein Stausee links der Straße rückt ins Blickfeld. Mit seinem azurblauen Wasser, das sich von den ockerfarbenen Bergen abhebt, erinnert er ein wenig an den Lake Powell in den USA. Eine Streife des Roten Halbmonds stoppt uns. „Dan-ge-rous“, beschwört uns einer der beiden Männer eindringlich. Vor uns warten mehrere (angeblich gefährliche) Tunnel, die wir nicht auf Fahrrädern durchqueren sollen. Leider blockiert ein Motorrad die Ladefläche des Pickups, sodass unsere Fahrräder dort keinen Platz finden. Nach kurzer Beratung der Sachlage, wird nur Minxins Bike verladen. Minxin nimmt im Wagen Platz, während ich im Höllentempo vor dem Pickup durch die dunklen und zugigen Tunnel hetze (lediglich der erste mit 2km Länge und ein paar Schlaglöchern ist wirklich tricky). Nach 5km ist die Treibjagd dann vorbei.
1300 Meter über NN. Nach einer steilen Bergabfahrt befinden wir uns in Karaj, eine Stadt die in den letzten Jahrzehnten extrem gewachsen und nun eher zum Vorort von Tehran geworden ist. Die letzten 40km legen wir in einem gewöhnlichen Peugeot-Taxi zurück, die Fahrräder hat man irgendwie in den Kofferrraum gequetscht. Am Azadi Platz im Westen der iranischen Hauptstadt werden wir von Sayag, unserem Couchsurf-Host bereits erwartet. Trotz einem kleinen Rempler mit einem Lieferwagen ist meinem Fahrrad glücklicherweise nichts passiert.
Verabschiedung der Roter Halbmond - Eskorte; die letzten 40km nach Teheran sparen wir uns greifen auf ein Taxi zurück; Ankunft am
Azadi Platz in Teheran (v.l.n.r.)
Kommentar schreiben
Yang Yuchi (Montag, 08 Juni 2015 21:11)
Diese Erfahrung ist ganz prima! Ich will eure Geschichte zu alle meine Freunden erzählen!
Tobi (Dienstag, 09 Juni 2015 13:07)
Respekt, noch eben den Pass mitgenommen ;)
Carolin (Freitag, 12 Juni 2015 21:51)
Ihr seid toll! Was eine beeindruckende Etappe! Und wunderbare Fotos....
Christof (Samstag, 13 Juni 2015 18:00)
Natürlich wußten wir, was für ein gewagtes Abenteuer Ihr auf Euch nehmt schon vorher. Aber nach diesem letzten Bericht verschlägt es einem den Atem. Bis jetzt ist es schon eine gewaltige Leistung - alles zusammen. Beeindruckend neben vielen Anderem ist für mich besonders diese grandiose Hilfe der vielen Menschen, mit denen Ihr zusammentrefft. Wir schicken Euch weiterhin die besten Wünsche für eine glückliche Fahrt.
Inge und Christof
Portfolio Team (Montag, 15 Juni 2015 14:11)
Liebe Minxin,
wir verfolgen deine Reise voller Spannung!
Wir senden dir viele liebe Grüße aus dem Büro!
ling (Montag, 15 Juni 2015 22:42)
minxin,看到你穿罩袍子围头巾骑车的照片,在想会不会不便于运动?
peter kirberger (Sonntag, 21 Juni 2015 09:58)
gratulation !!
danke für eure berichte.
peter
Yu (Montag, 22 Juni 2015 07:24)
我辨认了好久,哪个围头巾的是你啊!
Ivars Brencis (Mittwoch, 22 Juli 2015 16:51)
Ha, just saw your entry about meeting us. Very well written, I was seriously laughing out, when reading it, even though my German is sehr schwach.